Rune der Knechtschaft
Gespräch für sie von besonderem Interesse gewesen wäre!
»Das war keine Sklaverei. Ich war ein gewöhnlicher Verurteilter, der seine Strafe abarbeiten musste. Glaubt Ihr denn nicht, dass ich mein Schicksal verdient hatte?«
»Ich glaube gar nichts«, sagte Marikani. »Ich beurteile Menschen nach ihren gegenwärtigen Handlungen.«
»Noch ein Fehler. Die Vergangenheit enthüllt die Natur eines Menschen, und seine Natur gestattet es, seine Handlungen vorherzusehen.«
»Es ist ja nicht so, dass …«
Marikani hielt inne, als Arekh die Hand hob, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie waren an mehreren Tunneln zu ihrer Rechten vorbeigekommen und hatten sie ignoriert, um in der, wie sie hofften, richtigen Richtung weiterzugehen.
Aber dort, im letzten Gang, glaubte Arekh ein Funkeln erspäht zu haben.
Und er hatte etwas gehört … Er lauschte erneut, das Herz von Furcht zusammengezogen, und hatte Angst, das Geräusch zu hören, das ihr Schicksal besiegeln würde: Gebell. Nur ein Bellen, und alles würde vorbei sein. Ein Labyrinth aus Tunneln wie die Mine hielt Menschen auf - keine Hunde. Die Verfolgung würde Stunden dauern, aber am Ende würde die Meute sie auf jeden Fall einholen.
Nein. Noch immer nichts. Kein Bellen, keine Schreie, kein Luftzug, kein unterdrücktes Lachen.
Nur das Plätschern von Wasser … Vielleicht noch ein Wasserfall?
»Wartet hier«, sagte er und zog sein Schwert.
Er wagte sich vorsichtig in den Gang hinein.
Als er zehn Minuten später zurückkehrte, leuchtete sein Blick seltsam. Marikani und Lionor musterten ihn erstaunt.
»Diese verdammten Tunnel gefallen Euch, Aya Marikani?«, fragte er. Sie sah ihn an, ohne zu antworten. »Dann habe ich ein Geschenk für Euch.«
Er bückte sich, um wieder umzukehren; die Gruppe folgte ihm ohne ein Wort.
Arekh hatte etwas funkeln sehen - und in der Tat funkelte etwas. Sonne auf einem Blatt, das in einer leichten Brise schwankte.
Indem sie diesen Gang betreten hatten, hatten die Flüchtlinge die Grenze zu einer anderen Welt überschritten …
Ja, zu einer anderen Welt, oder zumindest zu einer anderen Zivilisation. Und die Grenze wurde sehr deutlich von einem Band schwarzer Steine markiert, das mitten durch den Gang verlief. Dahinter wurde der Tunnel abrupt breiter, um einen Torbogen sichtbar werden zu lassen, der mit
der Skulptur eines Löwenkopfes geschmückt war. Die wilden, edlen Züge waren fast perfekt erhalten.
Hinter dem Torbogen lag die Höhle.
Eine gewaltige Höhle, deren Decke so hoch war, dass die Tunnel, die doch eine achtbare Größe aufzuweisen hatten, dagegen winzig wirkten. Nach Stunden im unsicheren Licht der Fackeln und leuchtenden Gesteinsadern blendete die Helligkeit sie einen Augenblick: eine natürliche Helligkeit, die von oben durch einen gewaltigen Lichtschacht im Felsen fiel, durch den Himmel sichtbar war. Ein klarer blauer Himmel im Licht des Mittags oder frühen Nachmittags.
Gewaltige Rankpflanzen mit breiten, bläulichen Blättern klammerten sich an die Felsen, krochen über die hohen, glatten grauen Säulen des Tempels - wenn das Bauwerk in der Mitte der Höhle denn ein Tempel war. Ringsum standen gewaltige Steinbänke … Tische vielleicht? Altäre? In die Wände waren kleine Höhlenwohnungen geschlagen, Löcher im Felsen, in denen hinter einer einzigen Öffnung vielleicht zwei Personen hausen konnten. Die Wohnungen waren übereinander angeordnet und reichten bis zur Decke hinauf, wie ein gewaltiger unterirdischer Bienenstock.
Aber am eindrucksvollsten waren die Basreliefs und Statuen. Denn bis auf die Säulen in ihrer glatten Schlichtheit war jeder Quadratmeter grauen Steins mit Tier- und Menschenköpfen verziert: Löwen und Tiger, fremdartige Tiere mit gequälten oder glücklichen Gesichtern, Männer-, Frauen- und Kindergesichter, die jeden menschlichen Ausdruck zeigten, von Freude bis zur Melancholie, von Verzweiflung bis zur Seligkeit. Münder weinten oder schrien, lächelten oder waren ernst. All das verband sich zu einer herausfordernden Mischung aus Mäulern und Lippen, Nasen und Schnauzen, Hörnern, Wangen, Haaren,
Schuppen, Haut, Nüstern, Kinnen, Leder … grau wie der Stein und doch vor Leben überquellend. Marikani und Lionor traten langsam vor. Über ihren Köpfen bildete die Skulpturenhöhle eine Kuppel. Die ausdrucksvollen Basreliefs, das Tageslicht, die großblättrigen Pflanzen und die kleinen Häuser hauchten dem Ort wahrlich Leben ein. Und doch war jeder Stein, jede Säule vom Lauf der Zeit
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