Rune der Knechtschaft
hast.«
»Ayashinata Marikani«, wiederholte der Mann, bevor er das Knie zur Erde beugte. Aber obwohl die Geste förmlich war, konnte er den Blick nicht von Marikani abwenden; er suchte nach einer Erklärung und kämpfte sichtlich gegen das an, was für ihn nur wie eine Illusion wirken konnte. »Was … was macht Ihr hier? Seid Ihr nicht in Harabec?«
»Ihr erhaltet selten Neuigkeiten von außerhalb, ich verstehe …«, sagte Marikani lächelnd. »Versorgen sich die Soldaten nicht dann und wann in den Freien Städten mit Proviant?«
Loher stand wieder auf. »Die Soldaten?«
Ein kurzes Schweigen folgte.
Arekh war noch nicht einmal überrascht. Der Palast war verlassen, das hatte er begriffen, sobald er einen Fuß auf den Kiesweg gesetzt hatte. Der Ort wirkte einfach nicht bewohnt. Man spürte die Stille durch die Fenster dringen; völlige Einsamkeit lastete in der Luft.
Marikani antwortete nicht sofort. Welchen Nutzen hätte es auch gehabt, Erstaunen zu äußern und zu protestieren? Wenn keine Soldaten hier waren, waren eben keine da. Unnötig, sich aufzuregen.
Plötzlich ging sie unter Lohers verwundertem Blick zu einer Bank hinüber und setzte sich. Lionor und Mîn ließen sich ins Gras fallen. Arekh rührte sich nicht; wenn er sich hingesetzt hätte, wäre es ihm bestimmt nicht gelungen, wieder aufzustehen.
»Die Soldaten sind vor vier Jahren abberufen worden«, erklärte Loher. »Durch einen Befehl von Banh, den Ihr unterzeichnet hattet. Der Offizier sagte, dass Ihr sie bestimmt an der Ostgrenze brauchen würdet. Erinnert Ihr Euch nicht daran, Ayashinata?«
»Nein«, seufzte Marikani. »Oder … ja. Vielleicht doch.« Sie lachte leise. »Das Scharmützel in den Hochebenen. Das war die richtige Entscheidung, wir brauchen dort sicher mehr Männer als hier … Wer ist noch im Palast, Loher?«
»Außer mir? Nun ja, meine Frau, Merue, die Ihr ja gut kennt … und Madam Rhyse.« Marikani runzelte die Stirn, und Loher fügte hinzu: »Eure Musiklehrerin, Ayashinata. Sie ist sehr alt und mittlerweile blind. Sie hat sich damals, als alle anderen evakuiert wurden, geweigert mitzugehen. Sie sagte, sie hätte keine Angst, und dass die Soldaten des Emirs doch ruhig kommen sollten, ihr wäre das gleichgültig. Natürlich sind sie nie hergekommen. Ich bin mir sicher, dass Ihr Euch an Madam Rhyse erinnert …«
Lionor stand plötzlich auf und trat näher an Arekh heran. Sie musterte ihn einen Moment lang mit finsterer Miene, als sei ihr gerade ein neuer, beunruhigender Gedanke gekommen. Arekh erwiderte ihren Blick verständnislos.
»Ja … ja, sehr gut. Und was brauche ich die Soldaten?«, sagte Marikani mit einem neuerlichen Lachen, das an Hysterie grenzte. »Habt Ihr etwas zu essen?«
»Nicht viel, mögen die Götter mir vergeben«, antwortete Loher erschrocken. »Ein bisschen Kaninchenragout mit Sinatas und Kräutern … Suppe … geräucherten Schinken, Würste, Äpfel … Eier, Käse, den allerdings meine Frau selbst macht, und dann natürlich noch Brot und allerlei Teigwaren … Nichts, was Eurer Majestät würdig wäre, fürchte ich.«
Marikani lachte erneut, und Arekh lächelte beinahe. »Macht Euch keine Gedanken«, sagte er, indem er auf den erstaunten Mann zutrat. »Euer Speisezettel mag karg sein, aber ich bin sicher, dass Ihre Majestät und ihr Gefolge sich dieses eine Mal damit zufriedengeben werden.«
Die folgenden Tage waren ruhig und lichtdurchflutet, umrahmt vom rauchigen Blau der Berge. Arekh verbrachte sie wie die anderen damit, durch die Gänge des Palastes zu spazieren, sich in gewaltigen Zimmern auszuruhen, in denen es Himmelbetten und große Fenster gab, die auf die ferne Bergkette hinausgingen, oder sich auf den Terrassen oberhalb der Steilwand auszustrecken, um den Himmel und die Greifvögel zu beobachten.
Es war ein großartiger Ort. Arekh hatte schon viele Paläste gesehen, durchaus auch luxuriösere, aber die Schlichtheit der Architektur, die Reinheit der Landschaft und ihre Weite verliehen diesem hier einen magischen, luftigen Charakter. Manchmal hatte er den Eindruck zu fliegen, wenn er durch Gänge schlenderte, in denen ihn nur die Fenster vom Abgrund trennten.
Natürlich wurde die Andersartigkeit durch die Verlassenheit des Anwesens noch gesteigert. Als vor fünfzehn Jahren die Korridore noch von fröhlichem Geschrei, Plaudereien und Flüchen widergehallt hatten, als der Duft von Parfüm sich im großen Saal noch mit Essensdünsten vermengt hatte, war der Sommerpalast des
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