Rune der Knechtschaft
und Arekh auf der Hauptterrasse, die - wie alle anderen - auf die Steilwand zu ihren Füßen hinausging. Marikani blickte träumerisch in die Landschaft; sie zuckte nicht zusammen, als Arekh sich neben sie auf die Bank setzte.
So als hätte sie ihn erwartet und diesen Sitz für ihn vorgesehen.
»Es ist so seltsam«, sagte sie auf die brüske Art, mit der sie gern mitten ins Gespräch sprang. »Die ganze Flucht über habe ich angenommen, am Ende zu sein.«
Arekh musterte sie verständnislos. Sie machte eine Bewegung. »Am Ende meines Lebens, meiner königlichen Laufbahn, nachdem ich kaum fünf Jahre echte Macht ausgeübt hatte und sogar noch vor meiner offiziellen Krönung … Das wäre nichts weiter Besonderes gewesen«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu.
»Nein. Viele Könige bleiben nicht so lange auf dem Thron. Wisst Ihr, dass weniger als die Hälfte der Ratsherren von Reynes ihr erstes Amtsjahr überleben?«
»Warum das? Was stößt ihnen zu?«
»Sie werden ermordet«, erklärte Arekh mit einem kalten Lächeln. »Das hat bei uns so Tradition.«
Marikani sagte nichts zu dem »bei uns« , aber eine fast unmerkliche Bewegung ihres Kinns sagte Arekh, dass sie es durchaus gehört hatte. »Selbst, wenn ich morgen sterben würde, wäre ich also fünf Mal so lange im Amt gewesen wie die meisten Eurer Ratsherren«, sagte sie lächelnd. »Das ist ein Trost.«
»Seht Ihr, Aya Marikani? Das Leben hat seine guten Seiten.«
Die junge Frau nickte anmutig, bevor sie fortfuhr: »Also habe ich mich bemüht, mich auf das Ende vorzubereiten … Und doch stehe ich jetzt wieder am Anfang. Ich bin wieder dorthin geworfen, wo ich herkomme - aber die Schauspieler fehlen. Es ist wie die Kulisse eines Theaterstücks, das nicht mehr gespielt wird.«
»Seid Ihr hier geboren?«, fragte Arekh.
»Ja«, sagte Marikani nachdenklich. »Nein. Also … beinahe.« Sie zögerte und lächelte dann. »Meine … meine Mutter war die Nichte Vaarikhs I., der zu Beginn des Jahrhunderts über dreißig Jahre lang in Harabec geherrscht hat. Nach der Niederkunft hat sie mich mit meiner Amme hierher, in den Sommerpalast, geschickt, damit ich hier aufwachsen konnte.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Das war so Tradition in Harabec - wie die Ermordung Eurer Ratsherren.«
Arekh nickte. »Die Kinder fortschicken … Ja, von diesem Brauch habe ich schon gehört. Wegen der Seuchen, nicht wahr?«
»Ja. Der Königspalast von Harabec liegt nahe bei der Hauptstadt; das Klima dort ist sehr heiß und gilt als ungesund. Seit mehreren Generationen wurden die Kinder der Königsfamilie in den Sommerpalast geschickt, um dort
fern von ihren Eltern aufzuwachsen - um ihrer Gesundheit willen. Das ist sehr seltsam, wenn man bedenkt, was dann gekommen ist …«
Arekh, der sich erinnerte, von einer Epidemie gehört zu haben, nickte erneut.
Marikani fuhr fort: »Da die großen Familien gern untereinander heiraten, sind die meisten Adligen bei Hofe königlicher Abstammung. Und diese Tradition war ganz nach ihrem Geschmack. Welch eine günstige Gelegenheit, sich ihrer kleinen Kinder zu entledigen, um sich ungestört den Vergnügungen des Hofes hingeben zu können - und das mit dem besten Gewissen der Welt! Kurz und gut, hier, im Sommerpalast, gab es Dutzende von Kindern, allesamt Sprösslinge adliger Familien. Und jedes von ihnen wurde von einem Schwarm von Ammen, Dienern und Hauslehrern begleitet.«
»Und Sklaven«, fügte Arekh hinzu.
Marikani schwieg einen Moment lang. »Und Sklaven, ja«, sagte sie dann. »Und all diese Leute lebten friedlich die kalte Jahreszeit über in den Bergen. Im Sommer stieß dann der Hofstaat dazu, um der drückenden Hitze der Ebenen zu entgehen.«
»Mit einem Wort - Ihr habt Eure Mutter nur einmal im Jahr gesehen?«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich noch sehr klein war«, sagte Marikani leichthin. »Ich war, glaube ich, drei Jahre alt.«
Das schien sie nicht übermäßig zu bekümmern, wie Arekh amüsiert bemerkte. Das war nur natürlich. Marikani war ohne sie aufgewachsen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fuhr Marikani fort: »Meine Amme ist sehr schnell nach Harabec zurückgekehrt, und ich bin von Azarîn, unserem Hauslehrer, aufgezogen
worden. Lionor und ich waren seine Lieblingsschülerinnen. Er war ein sehr gebildeter, ungewöhnlich geistvoller Mann.«
In Marikanis Stimme lagen so viel Bewunderung und Respekt, dass Arekh einen Funken Eifersucht verspürte. »Einer dieser ehrgeizigen Bürgerlichen, die glauben, durch
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