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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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dass ihre Kleider in Fetzen hingen und stanken, dass sie unbeschreiblich schmutzig waren. Hier, in den frischen Farben der Natur, im duftenden Lufthauch, hatten sie den Eindruck, die Landschaft förmlich zu verschandeln und fehl am Platz zu sein.
    Mîn war kaum noch bei Bewusstsein; sie stützten ihn abwechselnd. Große Abgeschlagenheit hatte sich der drei Übrigen bemächtigt, die über den kleinsten Kiesel stolperten und vor Kälte zitterten, obwohl es recht mild war.
    Der Weg machte einen Bogen und führte weiter hinab, bis an eine hohe Steinmauer, die von Efeu und anderen Rankpflanzen überwuchert war. Ein Stück weit führte der Pfad an der Mauer entlang, bevor er an einem kleinen, beschädigten Gittertor endete, das im Wind knarrte.
    »Das ist einer der nordöstlichen Seiteneingänge«, erläuterte
Marikani. »Ich habe hier im Gemüsegarten häufig Verstecken gespielt. Weißt du noch, Lionor? Die Bresche in der Mauer?«
    Lionor war zu erschöpft, um mehr zu tun, als kurz zu nicken.
    Das Gitter gab unter dem Stoß, den Arekh ihm versetzte, endgültig nach und stürzte in ein Brennnesselgestrüpp. Sie drangen in den alten Gemüsegarten ein, der von Unkraut überwuchert war. Manche Gemüsepflanzen hatten wacker durchgehalten und den Jahren und ihren Gegnern die Stirn geboten, um zu wachsen und sich zu vermehren: Hier und da sah man schwere, gelbe Knollen ebenso wie die runden, leuchtenden Formen von Kürbissen und Sinatas . Obstbäume, die im Augenblick kein Laub trugen, waren von kleinen Holzzäunen umgeben, deren ordentlicher Zustand darauf hindeutete, dass sich hier Menschen aufhielten.
    Schließlich kam das Gebäude selbst in Sicht: der Sommerpalast oder zumindest das, was Marikani den Nordflügel nannte, ein großes Bauwerk aus hellem Stein, das nur über ein Stockwerk verfügte. Hohe, breite Fenster waren mit Holzläden verschlossen. Sie mussten etwa zehn Minuten lang gehen, während der abschüssige Pfad sich verbreiterte und in einen kiesbedeckten Weg überging, der sich mit Überresten längst vergessener Vornehmheit schmückte, bis sie den eigentlichen Garten erreichten.
    Rings um sie war die Landschaft noch immer von berückender Schönheit. Warum musste die Natur gerade dann solchen Glanz entfalten, wenn der Zustand der Reisenden es ihnen kaum erlaubte, sie zu genießen?
    Hinter ihnen lagen die fruchtbaren, grasbewachsenen Abhänge. Vor ihnen fiel das Plateau, auf dem der Palast errichtet worden war, abrupt ins Leere ab, während in der
Ferne die blauen Silhouetten der Berge aufragten und vom Fluss aufsteigende Nebelschwaden auf die westlichen Ebenen zutrieben.
    Eine große Kiesfläche markierte den Eingang zum Nordflügel. Marikani blieb stehen und blickte sich um. »Wo sind die Soldaten? Wir hätten schon welche sehen müssen …«
    »Die Armee von Harabec könnte wohl etwas an ihrer Wachsamkeit arbeiten«, spottete Arekh.
    Lionor hielt dagegen: »Sie sind schon seit Jahren von der Welt abgeschnitten.« In ihre Wangen war rosige Farbe zurückgekehrt. Sie schnupperte an der feuchten Luft, durch die einige erste Regentropfen fielen. »Es ist so schön, wieder hier zu sein«, seufzte sie.
    Marikani sah sich um und warf ihr einen beinahe zärtlichen Blick zu.
    Die beiden Frauen tauschten ein Lächeln voll Melancholie, das eine gegenseitige Zuneigung verriet, auf die Arekh noch immer eifersüchtig war.
    »Wer seid Ihr?«
    Die Stimme hinter ihnen zitterte vor Furcht und Wut.
    Ein Mann vorgerückten Alters, der einen Spaten in der Hand trug, starrte sie verängstigt an. Seine Kleider waren abgetragen und fadenscheinig, aber er wirkte nicht, als leide er Hunger.
    Ein langes Schweigen trat ein. Marikani ging zögerlich Schritt für Schritt auf den Mann zu. Sogar Mîn hob den Blick, als sei diese Begegnung aus irgendeinem unbekannten Grund bedeutsam.
    Arekh fiel auf, dass er Marikani bisher noch nie gemeinsam mit Bürgern ihres Königreichs erlebt hatte. Wie verhielten sie sich ihr gegenüber? Wie behandelte sie die Leute ihrerseits? Was, wenn der Mann sie nicht erkannte? Sie hatte keinerlei Möglichkeit, ihre Identität zu beweisen.

    »Loher?«, sagte die junge Frau schließlich.
    Das Gesicht des Fremden veränderte sich. Er wich einen Schritt zurück. »Ayashinata? Ayashinata Marikani?«
    »Loher, bist du es wirklich?« Nur Schweigen antwortete ihr, und Marikani fuhr fort: »Bei den Göttern, du bist kaum gealtert … Ich sehe dich noch vor mir, wie du alle Kinder des Palasts zum Weinkeltern eingesetzt

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