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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Herrscherhauses von Harabec sicher nichts Besonderes gewesen. Dennoch … Wie musste einem Kind diese Umgebung gefallen!
    Arekh war auf dem Land aufgewachsen, in einer flachen, feuchten Gegend, die zwar fruchtbar, aber trist war; der Himmel war meistens grau. Wälder grenzten dort an Sümpfe, aus denen die Bauern, die sich aus dem Dorf dorthin
vorwagten, mit Grünfieber zurückkehrten, an dem sie nach kaum einer Woche starben …
    Arekh erinnerte sich daran, wie er einst ein Gespräch zwischen dem Hohepriester des Fîr-Tempels und einer seiner Geliebten, einem sinnlichen Mädchen aus den Braunen Landen, belauscht hatte. Der Hohepriester war sturzbetrunken gewesen. Arekh hatte den Auftrag gehabt, seinem damaligen Auftraggeber sämtliche Informationen über die Finanzen des Tempels zuzutragen. Er hatte daher dafür gesorgt, dass er zu einem Abendessen eingeladen wurde, bei dem auch der Hohepriester anwesend war, und hatte sehr vielen interessanten Unterhaltungen gelauscht, um doch nur unbedeutende Einzelheiten zu erfahren, die ihm später kein bisschen genützt hatten.
    Aber da war dieser eine Wortwechsel gewesen … Seltsam, wie einen gelegentlich das, was ein Fremder sagte, beeinflussen konnte. Der Hohepriester hatte gesagt, dass einen die Landschaften, in denen man als Kind aufwuchs, für immer prägten. Dass die Farben dieser vergessenen Landschaften stets Charakter, Erinnerungen und Gefühle tönten: Sonnenuntergänge über dem Meer, grauer Regen in schmutzigen Stadtstraßen, die blendende Gewaltigkeit der roten Wüstenfelsen …
    Meine Seele ist ein Sumpf , dachte Arekh, als er durch den Westflügel spazierte, während er das Kind, das er gewesen war, mit einem kleinen Mädchen mit langen, dunklen Zöpfen verglich, das durch den Marmorkorridor lief, den er gerade hinunterschritt.
    Marikani war mit der reinen, würdevollen Schönheit der Berggipfel vor Augen aufgewachsen, mit der spiegelnden, zartvioletten Luft, die einem Trugbilder vorgaukelte. Was hätte der Hohepriester dazu gesagt? Welchen Charakter hatte die junge Frau entwickelt?

    Loher und seine Frau, die gar nicht wussten, wie sie ihrem königlichen Gast angemessen gerecht werden sollten, hatten ihr den kompletten Palast angeboten: Alle Fenster waren aufgerissen worden, alle Vorhänge zurückgezogen, die Zimmertüren entriegelt. Das Licht flutete in große Räume, das Parkett der Ballsäle und Audienzräume glänzte, die alten Vergoldungen schimmerten bräunlich im Abendlicht: all das für vier Reisende, die in Lumpen eingetroffen waren. Der Palast war verblüffend sauber. Merue hatte Lionor, die eine bewundernde Bemerkung darüber gemacht hatte, erklärt, dass sie es als ihre Aufgabe ansah, das ganze Jahr über nach und nach jedes einzelne Zimmer zu putzen. Wenn sie nach ungefähr einem halben Jahr einmal ganz herumgekommen war, fing sie von vorne an.
    Das war sicher ein so guter Weg wie jeder andere, sich nicht von der Einsamkeit verschlingen zu lassen.
    Die vier Reisenden sprachen kaum miteinander und hatten sich ohne vorherige Absprache Zimmer an sehr verschiedenen Stellen des Palasts gesucht. In den Tunneln war das Zusammenleben drückend eng gewesen, und so benötigten sie sicher alle gleichermaßen Freiraum, Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Nur Lionor und Marikani schwatzten manchmal munter miteinander; ihre Stimmen tönten dann wie Freudengesänge durch die verlassenen Höfe, während die beiden jungen Frauen sich Kindheitserinnerungen und diverse Anekdoten ins Gedächtnis riefen.
    Die Soldaten hatten einige wertvolle Dinge zurückgelassen, unter anderem Mahhm. Mîn erholte sich langsam. Er hatte die ersten drei Tage im Bett verbracht, die Augen auf die Decke gerichtet und in beunruhigenden Delirien verloren. Dann war das Fieber gesunken. Nun begegnete
Arekh ihm manchmal in den Gemächern und sah ihn die Fresken betrachten oder mit dem Finger über die Goldund Silberfäden irgendeines Wandteppichs fahren, der eine längst vergessene Schlacht zeigte. Er sprach kaum, sondern schaute nur, ganz wie ein Pilger im Tempel.
    In seinem ganzen Leben hatte dieser Junge bisher sicher lediglich seinen Bauernhof, sein Dorf, den benachbarten Marktflecken und schließlich das Gefängnis und die Galeere gesehen. Dieser Ort war für ihn eine fremde Welt, und Arekh fragte sich, wie er damit zurechtkommen würde. Der Mensch war ein anpassungsfähiges Wesen, aber manche Veränderungen konnten für empfindliche Seelen schwierig sein.
    Eines Abends begegneten sich Marikani

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