Rune der Knechtschaft
verließ sein Zimmer dann wieder und stieg in den zweiten Stock hinauf, um Madam Rhyse zu befragen.
Da war etwas - und dieses etwas betraf Lionor, davon war er überzeugt.
Marikani hatte mit dem Sklavenaufstand gute Ablenkungsarbeit geleistet, aber so leicht war Arekh nicht zu täuschen. Lügen, Informationen und Geheimnisse waren sein Beruf.
Madam Rhyse war noch wach, und ihre blinden Augen starrten zum Fenster, als riefen die Monde sie durch ihre toten Pupillen. Sie antwortete Arekh, als er sie ansprach, doch sie redete irre … Es war ein absurdes, melancholisches Fantasieren, in dem es um verlorene, glanzvolle Tage, geliebte, entschwundene Kinder, Musikstunden, den Haushalt und Küchenintrigen ging. Arekh fand dabei nichts heraus und wollte schon aufgeben. Er hatte Lionors Namen fünf oder sechs Mal erwähnt, ohne eine Reaktion hervorzurufen.
Beim siebten Mal gelang es.
»Was haltet Ihr von Lionor?«, wiederholte er.
Und plötzlich richteten sich die weißen Augen der alten Frau auf ihn, und eine knochige Hand packte die seine. »Azarîn, mein Schatz, warum bist du gegangen?«
Ein unwillkürlicher Schauer durchlief Arekh, als die alte
Frau ihr Gesicht an seines heranführte. Ihre Haut duftete nach Zitronen und schwarzer Seife, doch auch der süßliche, ekelhafte Geruch des Alters haftete ihr an.
»Küss mich, ich brauche dich … Oh, nimm meine Lippen, mein Schatz. Warum bist du nur gegangen?«
Arekh wich ganz leicht zurück; dann streichelte er - gerührt, ohne zu wissen, warum - die Hand der alten Frau. »Ich bin hier.«
»Aber der Hof zieht dich an, du hast immer davon geträumt. Oh, warum hast du das nur getan? Es ist so gefährlich … Die Kleine ist tot. Sie ist tot, und die Sklavin ist gezeichnet.«
»Die Sklavin? Gebrandmarkt?«
»Sie sind tot. Erinnerst du dich nicht? Wie du vor Wut gezittert hast, als du sie unter deinen Schutz genommen hast … Aber die Familie wird sie erkennen … Sie werden herausfinden, was du getan hast … Du schreibst so schöne Gedichte, willst du keines für mich schreiben? Über Feuer und Wasser …«
»Sie werden herausfinden, was ich getan habe? Was befürchtest du, Rhyse? Sag mir …«
»Jede Sklavin ist von den Göttern gezeichnet. Der Austausch ist Blasphemie … Sie kann noch immer nicht Flöte spielen, trotz all deiner Bemühungen. Ich weiß, dass du sie liebst, mehr als mich, vielleicht …«
»Ich liebe sie?«, wiederholte Arekh. »Wen?«
»Die Familie wird herausfinden, was du getan hast. Sie wird keine Sklavin in ihrem Schoß aufnehmen. Sie ist intelligent, aber die Verfluchung leuchtet aus ihren Augen … Die Götter haben sie gezeichnet …«
»Gezeichnet?«
»Ich bin nicht gezeichnet«, sagte die alte Frau mit einem koketten Lachen. »Das sind nur Sommersprossen. Du hast
sie so gern geküsst … Erinnerst du dich? Azarîn, mein Schatz, ich will deine Haut an meiner spüren … Wenn du mich nun küssen würdest, wie früher? Ich flehe dich an, mein Schatz, küss mich …«
Arekh stand abrupt auf - nicht aus Ekel, sondern vielleicht aus Mitgefühl. Melancholie überkam ihn, und er spürte derart tiefen Kummer, dass es ihn überraschte. Ja, er hatte sich nichts eingebildet, da war durchaus etwas, aber alle Intrigen und Geheimnisse waren plötzlich zweitrangig angesichts der unendlichen Traurigkeit dieser toten Liebe, die er mit seiner Stimme und seiner Berührung aufgestört und wiedererweckt hatte.
Er nahm sich seine Gefühlsduselei übel und stieg rasch die Treppe hinunter.
Die Reise begann unter sehr günstigen Vorzeichen. Es war schönes Wetter, und trotz der Gefahren, die ihrer harrten, flößte es ihnen aufrichtige Freude ein, trockene Kleider, bequeme Schuhe und Proviant im Gepäck zu haben.
Drei Tage später erreichten sie nach ereignisloser Wanderung die ersten Dörfer, die ihre Rückkehr in die Zivilisation belegten. Sie verbrachten eine Nacht bei einem Bauern, gingen dann weiter, überschritten den Pass, der sie zurück nach Osten und näher an die Gefahr brachte. Sie hatten befürchtet, dort Soldaten vorzufinden, aber es war niemand da - zumindest niemand, den sie hätten sehen können.
Arekhs Gefühl, in Sicherheit zu sein, wurde mit jedem Schritt nach Osten schwächer. Wenn er der Emir gewesen wäre, hätte er seine Feinde nicht einfach für tot gehalten, wenn sie in einem Labyrinth aus Fels und Wasser verschwunden wären. Ja, wenn er der Emir gewesen wäre, hätte er in jedem Dorf und auf jedem Pfad Spione postiert,
er
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