Rune der Knechtschaft
hätten wir Harabecs würdigster Vertreterin mit dem größten Vergnügen unsere Gastfreundschaft angeboten …«
Neben Arekh verkrampfte Marikani sich unmerklich. Eine verständliche Reaktion. Sie musste nicht erst warten, bis der Bürgermeister seine Rede beendet hatte - die Formulierung »unter anderen Umständen« zerstörte all ihre Hoffnungen.
Diesmal machte der Bürgermeister keine Pause. »Wie Ihr wisst, zwingen uns leider uralte Traditionen, es den Mitgliedern fremder Dynastien zu verwehren, unseren Grund und Boden zu betreten, wenn sie nicht offiziell mit Brief und Siegel drei Mondumläufe vor ihrer Ankunft darum ersucht haben. Deshalb müssen wir Euch mit dem größten Bedauern verwehren, die Tränenstadt zu betreten. Seid aber versichert, dass wir Euch mit dem größten Respekt …«
»Zum Fluss!«, rief Marikani plötzlich und packte Lionor an der Hand. »Zum Fluss! Bleibt erst stehen, wenn ihr die Füße im Wasser habt!«
Und mit einer Art Wutschrei, der zugleich ein Zuruf war, begann sie zu rennen und zerrte Lionor hinter sich her. Arekh hatte gerade noch Zeit, das verblüffte Hüsteln des Bürgermeisters zu hören, bevor er ihr nachrannte. Der feuchte Wind peitschte um seine Ohren, und seine Füße ließen Schlamm aufspritzen.
Was tut sie denn nur? Der Gedanke huschte ihm durch den Sinn, ohne hängen zu bleiben; es war nicht der rechte Zeitpunkt für Grübeleien. Andere, wesentlich konkretere Sorgen gewannen die Oberhand.
Sie werden uns niedermetzeln! Die Soldaten des Emirs werden schießen; sie haben Armbrüste, und wir bieten ein allzu schönes Ziel!
Sein Rücken war angespannt, seine Muskeln verhärtet, bereit, den Bolzen zu empfangen, der ihn töten würde. Er hörte Schreie, Befehle, die in der melodischen Sprache des Emirats gegeben wurden … Aber kein Bolzen bohrte sich in seinen Rücken. Es hätte zu einem ernsten diplomatischen Zwischenfall geführt, wenn die Leute des Emirs ohne die Erlaubnis des Bürgermeisters vor so vielen Zeugen jemanden getötet hätten. Und vor allem konnten
die Flüchtlinge ja nicht weit kommen; das wusste auch der Ahaman des Emirs, der die Soldaten befehligte. Marikani konnte nirgendwohin fliehen.
Aber was tut sie dann? Wollte sie lieber ertrinken, als sich gefangen nehmen zu lassen? Der Schlamm wurde immer flüssiger, wurde zu Wellen. Marikani wurde langsamer und drehte sich um, als ihr das Wasser bis zu den Knöcheln stand. Arekh blieb seinerseits stehen. Neben ihm ließ sich Mîn fallen und setzte sich in den Fluss. Er war noch weit davon entfernt, genesen zu sein, und der kurze Lauf hatte ihn erschöpft.
Also waren sie jetzt im Fluss, im Joar … aber immer noch in Reichweite der Armbrüste. Aus einigen Dutzend Metern Entfernung beobachteten die Insassen des Bootes die vier erstaunt. Zu ihrer Rechten drängten die Mitglieder der Delegation ans Brückengeländer, um bessere Sicht zu haben.
»Aya Marikani, es hat keinen Sinn, davonzulaufen«, begann der Bürgermeister in unsicherem Ton, aber Marikani drehte ihm kalt den Rücken zu und wandte sich mit im Wind flatternden Haaren und nasser Hose, die ihr an der Haut klebte, an den Schiffer.
Dieser stand noch immer am Mast; er hatte sich nicht gerührt, sondern nur die Arme voneinander gelöst. Seine verächtliche Miene war einer gewissen Neugier gewichen.
»Herr der Verbannten«, rief Marikani mit lauter, klarer Stimme, die weiter trug, als die Worte des Bürgermeisters es getan hatten, »meine Füße und die meiner Freunde befinden sich im Wasser, das Euer Gebiet ist! Euer Volk ist aus Flüchtlingen wie uns entstanden. Und in ihrem Namen - im Namen Eurer Vor väter! - bitte ich Euch heute um Asyl. Der Joar ist Euer Lehensgebiet, und ich werde verfolgt. Wenn ich unter diesen Umständen gefangen
genommen werden würde, wäre das eine Beleidigung Eurer Gesetze!«
Lionor biss sich auf die Lippen, und Arekh entfuhr ein kurzer Pfiff. Der Einfall war gerissen - und zugleich gefährlich und verzweifelt. Arekh hatte nicht sofort eine Verbindung zwischen den Insassen des Boots und dem Volk des Joar - den Verbannten - hergestellt, die bedeutende Händler der Tränenstadt waren.
Der Legende nach ging die Entstehung ihres Volks auf die Verurteilung eines jungen Kriegers vor sechshundert Jahren zurück. Der junge Mann, dessen Name weder in der Geschichtsschreibung noch in Sagen auftauchte, war ein Kriegsheld gewesen. Da er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte, war er zur Verbannung verurteilt worden, aber
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