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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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weiß, dass es Sklavenaufstände gibt, und dieser hier wird ihn nicht mehr entsetzen als jeder andere.«
    »Was ist geschehen?«, fragte Arekh.
    Marikani machte eine Gebärde, die bitter wirkte. »Was soll Eurer Ansicht nach schon geschehen sein? Hier gab es gut hundert Sklaven. Mehr Leute vom Türkisvolk als freie Menschen … Und die Palastbewohner waren größtenteils Frauen und Kinder. Also sind die Sklaven auf dumme Gedanken gekommen, obwohl sie Ketten trugen. Sie waren hier an einem abgeschiedenen Ort und sagten sich, dass es möglich sei zu siegen. Sie haben alles vorbereitet und hätten sicher Erfolg gehabt, wenn …«
    »Wenn?«
    »Wenn sie nicht verraten worden wären. Einer von ihnen hat geredet. Der Verwalter hat Truppen kommen lassen. Sie haben die Rädelsführer in den Kerker geworfen und zu Tode gefoltert. Dann haben sie die fünfzig kräftigsten
Sklaven in den Hof geführt, sie dort angekettet und ihnen vor allen Palastbewohnern die Kehle durchgeschnitten. Sie lagen auf den Knien, die Hände auf dem Rücken …«
    Arekh verspürte während der Erzählung keinerlei Emotion. Es waren Sklaven gewesen, die rebellieren wollten - sie hatten also gewusst, was sie erwartete. Es war normal, sich der Rädelsführer zu entledigen und an den anderen ein Exempel zu statuieren. Aber er war kein Kind mehr. Marikani musste noch ein kleines Mädchen gewesen sein, als sie dieses Schauspiel miterlebte.
    Der Anblick hatte sie sicher tief geprägt.
    Arekh hatte plötzlich den Eindruck, einen Teil von Marikani zu verstehen, zu dem er bisher keinen Zugang gehabt hatte. Ja, es hatte sie geprägt … Auf der empfindsamen Seite ihrer Seele musste diese Erinnerung ein Brandmal hinterlassen haben.
    »War das vor der Seuche?«, fragte er. »Wie alt wart Ihr?«
    »Fünf Jahre. Das Blut floss in Strömen über den Hof, während sie einen nach dem anderen töteten. Angekettete Sklaven. Ich kann es nicht ertragen, gefesselte Menschen sterben zu sehen.«
    Sie sah ihn noch immer an, und Arekh hielt ihrem Blick stand, las in den braunen Augen der jungen Frau die Antwort, die sie ihm anbot, die Antwort auf all die Fragen, die er während der ersten Hälfte ihrer Reise gestellt hatte.
    Sie ertrug es nicht, gefesselte Menschen sterben zu sehen.
    »Die Seuche ist tatsächlich kurz danach ausgebrochen«, fuhr Marikani mit einem seltsamen Lächeln fort. »Neun von zehn Menschen im Palast sind gestorben, vielleicht noch mehr. Lionor und ich waren unter den wenigen Überlebenden. Dann hat man neue Diener aus Harabec kommen lassen …«

    Lionor wich zurück und lehnte sich gegen die Wand. Arekh sah, dass sie kreidebleich war. So bleich, mit Augen, die solch einen bläulichen Schimmer hatten …
    Warum? War es die Erinnerung an das Massaker? An die Seuche? Nein. Diese Blässe verriet Furcht.
    Arekh erkannte Angst, wenn er sie vor sich hatte. Er roch sie.
     
    Die Nacht verging, aber die Magie des Palasts war verflogen. Als spürten auch sie es, begannen Marikani und Lionor die Abreise vorzubereiten. Die einzige Lösung bestand nun darin, wieder vom Gebirge hinabzusteigen, um eine der Freien Städte zu erreichen und von dort aus nach Harabec zu gelangen.
    Aber die Freien Städte lagen sehr nahe am Emirat. Die Versuchung, sie auszuliefern, würde für jeden Verräter groß sein.
    Sie sprachen zu dritt lange darüber, während sie am Küchentisch, wo Merue sie bediente, Suppe aßen.
    »Die besten Chancen haben wir in der Tränenstadt«, sagte Marikani. »Wir haben immer hervorragende Handelsbeziehungen mit der Stadt unterhalten.«
    Sie wirkte nicht sehr überzeugt. Wenn die Handelsbeziehungen zwischen der Tränenstadt und Harabec gut waren, so waren sie zwischen der Stadt und dem Emirat noch besser …
    Aber sie hatten keine Wahl. Alle Wege, alle Landstraßen, alle Pässe mussten mittlerweile unter Beobachtung stehen. Sie brauchten politischen Schutz.
    Am Vorabend ihres Aufbruchs stellten Marikani und Lionor Proviant zusammen und zogen Reisekleider sowie feste Schuhe an. Merue und Loher brach es das Herz, sie gehen zu sehen; Arekh begriff, dass die Ankunft ihrer Prinzessin
und der relativ vertrauliche Umgang, den sie mit ihr gehabt hatten, ohne Zweifel Höhepunkte ihres Lebens gewesen waren, an die sie sich noch lange erinnern würden. Sie füllten die Proviantsäcke und legten ein Stück ihrer Seele in jede Scheibe Dörrfleisch.
    Als die Uhr Mitternacht schlug, hatte jeder sich in sein Zimmer zurückgezogen.
    Arekh wartete, bis alles still war,

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