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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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zu ergreifen. »Lionor und Marikani. Ihr habt uns Musikunterricht gegeben. Erinnert Ihr Euch? Im Silbernen Schreibzimmer … Wir sind immer abends in Eure Stunden gekommen, und Ihr habt uns Honigkuchen geschenkt.«
    Der leere, blinde Blick der alten Hauslehrerin richtete sich nacheinander auf die beiden jungen Frauen, ohne dass auch nur ein Wort aus ihrem Mund gedrungen wäre.

    »Kommt, Madam Rhyse, ich bin sicher, dass Ihr Euch erinnert«, wiederholte Marikani noch weitaus behutsamer. »Wir sind hier, um Euch zu besuchen … Es war eine lange Reise mit vielen unerwarteten Umwegen«, fügte sie mit einem an die beiden anderen gerichteten Lächeln hinzu. »Aber jetzt sind wir endlich hier. Wollt Ihr nicht mit uns sprechen?«
    Wieder Schweigen. Allerdings erschien es Arekh diesmal, als sei die alte Dame aufmerksamer.
    »Wie geht es Euch? Kümmert man sich hier gut um Euch? Gibt Merue Euch genug zu essen?«
    »Merue ist ein gutes Mädchen«, sagte die alte Dame plötzlich mit schleppender Stimme. »Merue backt gute Kuchen.«
    Lionor lächelte ihrerseits, und das auf eigenartige, langsame Weise; das Gespräch wandte sich der Küche und der Qualität der einzelnen Speisen zu. Marikani, die ein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte, erinnerte sich noch an die Namen aller Köche ihrer Kindheit … Und Madam Rhyse und die beiden jungen Frauen sprachen von der Begabung dieses oder jenes Sklaven, Hühnchen mit Zitronengras und Kräutern zuzubereiten, von den unvergesslichen Mahlzeiten, die im Sommer auf den Terrassen serviert worden waren, wenn der Hof aus Harabec eingetroffen war, von Festessen, bei denen Kuchen und Fruchtmus zu Pyramiden auf den geschnitzten Holztischen aufgeschichtet worden waren - damals, als die Beziehungen zum Emirat noch so gut gewesen waren, dass der Verwalter von den Berggipfeln im Norden Massen von Eis hatte herunterschaffen lassen können, mit denen er fabelhafte Sorbets und Nachspeisen zubereitet hatte.
    Arekh setzte sich aufs Bett, das mit einer Steppdecke in verblichenen Farben bedeckt war, und ließ seinen Geist
treiben, eingelullt von den Beschreibungen, die einem Märchen zu entstammen schienen, oder vielleicht einer Scheltrede der Claesen, eines Volkes, das Askese predigte, ohne sich selbst allzu sehr daran zu halten. Die frische Luft, die durch das offene Fenster hereindrang, roch nach Wald. Arekh verlor den Faden dessen, was die Frauen sagten, und lächelte. Ja, er misstraute dem Schicksal, aber der Wille der Götter war schon seltsam: Er hatte ihn von der sinkenden Galeere im Wasser zwischen die Wandvertäfelungen dieses Zimmers geführt, in dem melodische weibliche Stimmen von Orangenlimonade und gezuckerten Rosen sprachen …
    Plötzlich änderte sich die Musik des Gesprächs. Da war ein Bruch, ein abrupter Wandel des Tonfalls, etwas, das für ein gewöhnliches Ohr nicht wahrzunehmen gewesen wäre; aber Arekh wusste solche Dinge zu erkennen. Er rührte sich nicht, kein Muskel seines Gesichts zuckte; nichts an seinem Ausdruck verriet, dass er etwas bemerkt hatte. Seine Augen betrachteten weiterhin den Nachthimmel, seine Hand streichelte immer noch geistesabwesend die Steppdecke. Er nahm wahr, wie die beiden jungen Frauen einen Moment lang den Atem anhielten.
    Lionor und Marikani befanden sich nicht in seinem Gesichtsfeld; dennoch spürte Arekh, dass sie ihn ansahen.
    Er rührte sich nicht, und sie atmeten weiter, während die alte Dame mit heiserer, kindlicher Stimme von Abendessen und von Dienerinnen sprach, die längst begraben waren.
    Arekhs Finger spielten mit der Steppdecke. Was hatte Madam Rhyse gesagt? Sie hatte einen Satz ausgesprochen, und die beiden jungen Frauen, die sonst fröhlich auf alles eingingen, hatten plötzlich innegehalten. Da war eine gewisse Anspannung gewesen, Verlegenheit und der
Blick, den sie, wie Arekh sicher wusste, auf ihn geworfen hatten.
    Was hatte Rhyse gesagt? Arekh versuchte, sich zu erinnern. Unmöglich. Er hatte nicht aufgepasst.
    »Leider ist er ja infolge der Revolte ums Leben gekommen«, sagte Madam Rhyse in diesem Augenblick. »Hingerichtet wie die anderen. Schade, trotz allem! Er war ein so guter Koch …«
    Aufs Neue spannten Lionor und Marikani sich an; Lionor stand auf und legte eine Hand auf Rhyses Unterarm, wie um sie zum Schweigen zu bringen.
    Diesmal blickte Arekh auf.
    Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann zog Marikani sanft Lionors Hand fort.
    »Wir haben nichts zu verbergen«, sagte sie, die Augen auf Arekh gerichtet. »Arekh

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