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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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vier Reisenden, als seien sich die Soldaten der Tränenstadt noch nicht sicher, wer der Feind war. Marikani und Lionor rannten jetzt in dem Versuch, zur Mauer zu gelangen, diagonal immer tiefer in den Fluss hinein. Das Boot behielt seine Richtung bei; die Reiter des Emirs erreichten das Wasser … Und plötzlich wurde die Strömung stärker, riss die vier Flüchtlinge von den Füßen und wirbelte sie durch die Wellen, so dass ihnen stinkendes, schlammiges Wasser in Mund und Nase drang.
    Für einige Augenblicke verlor Arekh völlig die Orientierung. Er sah und hörte nichts mehr, bis er wieder an die Oberfläche kam und der Regen ihm ins Gesicht peitschte. Er versuchte, wieder Luft zu bekommen. Sein Fuß traf auf irgendetwas - vielleicht das Flussbett? -, und er stieß
sich ab, schwamm, hielt nach den anderen Ausschau, aber die Wellen schwappten ihm ins Gesicht, und er sah wieder nichts. Ein Schrei. Ja, er hatte einen Schrei gehört - oder war es ein Wiehern gewesen? Er wandte den Kopf und sah die Stadtmauer auf sich zurasen … Eine Welle wirbelte ihn noch einmal herum, und da bemerkte er das Boot, ganz nah, nur ein paar Zentimeter entfernt, und ausgestreckte Hände. Er packte das Holz und wurde an Bord gezogen.
    Im Boot kniend hustete er, spuckte Wasser und sah Lionor mit vollgesogenen Kleidern neben sich sitzen; sie musterte ihn mit ihren türkisfarben schimmernden Augen. Ihr hasserfüllter Blick verriet, dass es sie ärgerte, dass die Verbannten ihn gerettet hatten und er nicht ertrunken war.
    Beim nächsten Mal vielleicht, meine Hübsche , dachte er. Der Schrei einer Frau ertönte, und eine Welle der Panik brach über Arekh herein. Marikani? Wo war Marikani? Obwohl ihm schwindlig war und alle seine Gliedmaßen vor Kälte zitterten, gelang es ihm, sich umzudrehen, und er sah sie im Wasser. Sie klammerte sich mit einem Arm ans Boot und hielt Mîn mit dem anderen. Der Jugendliche rührte sich nicht; er war sehr bleich und hielt den Kopf in einem seltsamen Winkel. Ein Pfeil ragte aus seinem Hals. Hinter Arekh keuchte Lionor entsetzt. Arekh wollte aufstehen, aber der Herr der Verbannten hockte bereits an der Reling und bemühte sich, die junge Frau aus dem Wasser zu zerren.
    »Ihn zuerst - nehmt ihn zuerst!«, hustete Marikani, die von Mîns Gewicht fast unter Wasser gezogen wurde.
    Eine Welle zwang sie beinahe, ihn loszulassen. Der Joar toste mittlerweile zwischen steinbefestigten Ufern dahin; sie hatten die Mauer fast erreicht.
    »Ihn zuerst«, wiederholte Marikani, aber der Herr der Verbannten packte sie fest am Arm.

    »Er ist tot«, sagte er und löste ihre Hand. Mîns Leichnam wurde weggeschwemmt, drehte sich einmal und verschwand in der Strömung, während der Herr der Verbannten Marikani gewaltsam ins Boot zog, das vom Wasser unter der Mauer hindurchgetragen wurde. So gelangten sie in die Tränenstadt.
     
    Die Sterne bildeten funkelnde Knoten am Himmel, die auf die blaue Leinwand Runen schrieben, Buchstaben der Vorsehung und des Schicksals. Die Boote trieben sanft auf dem schwärzlichen Wasser, in dem sich das Licht der verzierten, bunten Papierlaternen spiegelte, die an den Masten hingen. Girlanden aus Kerzen, die mit kräftigen Fischschnüren befestigt waren, waren zwischen den Booten gespannt und bildeten Lichterketten. Bretter gestatteten den Verbannten, frei von einem Boot zum anderen zu gelangen. Sie spazierten ungehindert durch diese Siedlung aus Holz, Wasser und winzigen, züngelnden Flammen.
    Ringsum ragte die Stadt auf. Die hohen Steinhäuser waren düster. Nur einige an Häuserecken brennende Laternen verrieten, dass es in den steinernen Gängen auch Leben gab. Doch es schliefen Leute dort, träumten unter den schweren Dächern, und Arekh fragte sich, wie viele Kinder und junge Mädchen wohl genau in diesem Augenblick am Fenster standen, das Wasservolk beobachteten, eifersüchtig auf das Leben und den Frohsinn waren, die die Boote ausstrahlten, und bitter den Geruch einer Freiheit einsogen, über die sie selbst nie verfügen würden.
    Ja, wenn die Legende der Wahrheit entsprach, dann hatte der damalige Bürgermeister einen schrecklichen Fehler begangen. Er hatte nicht nur seinen Feinden eine Macht verliehen, die er falsch eingeschätzt hatte, sondern sie zudem noch im Herzen der Stadt behalten, wo sie ständig
eine andere Lebensweise zur Schau stellten, die man nur durch Vergehen erreichen konnte.
    Irgendwo mussten sich die schwarzen Vögel des Schicksals vor Lachen ausschütten.
    Marikani hatte

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