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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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den ganzen Abend über nicht gesprochen. Stumm und undurchschaubar hatte sie mit angezogenen Knien in einem Winkel eines Boots gesessen. Lionor war bei ihr geblieben, und der Herr der Verbannten, der ihre Trauer respektierte - sicher nahm er an, Mîn sei ein Mitglied ihrer Familie gewesen -, hatte sie nicht angesprochen. Er hatte ohnehin viel zu tun: Erst waren Gesandte des Bürgermeisters, dann der Bürgermeister selbst ans Ufer dieses Wasserlaufs gekommen, um zu verhandeln, zu flehen und zu drohen. Arekh hatte die Gespräche nicht belauschen können; das Boot, auf das man sie inzwischen gebracht hatte, war zu weit vom Kai entfernt. Aber er hatte ärgerlich erhobene Stimmen gehört, und noch vor Sonnenuntergang waren Soldaten demonstrativ an beiden Ufer entlangpatrouilliert. Die Verbannten hatten sie lautstark verspottet und mit Obstschalen und Fischgräten beworfen, wann immer sie in Reichweite gewesen waren.
    Dann hatte sich mit dem Abend langsam Ruhe über die Stadt gesenkt. Die Verbannten hatten ihre Laternen und Kerzen entzündet. Dem Bürgermeister stand eine unangenehme Nacht bevor. Der Ahaman hatte sicher einen Boten zum Emir geschickt, und dessen Reaktion würde nicht lange auf sich warten lassen. Würde es zu einer Invasion kommen? Das glaubte Arekh nicht - und der Herr der Verbannten auch nicht, sonst wäre er gewiss kein solches Risiko eingegangen. Nein, der Bund der Freien Städte war zu stark, und die neutralen Mächte wie die Fürstentümer von Reynes würden sich Sorgen machen, wenn das Emirat ein solches Übergewicht gewann.

    Der Wind strich über die Wasseroberfläche und kräuselte sie wie einen Schleier. Der Joar floss weiter südlich, jenseits des Stadtzentrums, aber das Wasser, das durch eine Reihe von Kanälen zwischen den Häusern hindurchgeleitet wurde, bildete eine zweite Stadt zwischen ihnen. Durch zahlreiche Treppen, Brücken, Stege und Tunnel konnten Stein und Wasser friedlich nebeneinander leben, um sich dann majestätisch im Stadtzentrum am Marktplatz zu vereinigen, an dem am Ufer die Bürgerhäuser standen und auf der großen Wasserfläche das Herz der Gesellschaft der Verbannten lag.
    Die Laternen flackerten und zeigten so an, dass jemand sich über die Stege bewegte. Der Herr der Verbannten - so geschmeidig, dass er mit seinem schmalen Gesicht, seinem langen, schwarzen Haar und seinen funkelnden Augen fast einem Wesen aus der Anderswelt glich - kam leichtfüßig ins Boot gesprungen.
    »Kommt«, sagte er zu den drei Reisenden. »Wir haben etwas zu besprechen.«
    Sie folgten ihm wortlos durch das hölzerne Labyrinth von Boot zu Boot. Die Verbannten waren zu einem Großteil noch wach und guter Laune; an vielen Stellen wurde Musik gespielt. Einige junge Leute tanzten stumm. Ein Säugling weinte, Kinder würfelten oder schnitzten aus Holz seltsame, gebogene Flöten.
    Sie erreichten den Süden der Wasserfläche. Ein eigenartiger Geruch stieg dort auf und vermengte sich mit dem Rauch. Eine Droge oder Weihrauch? Der Duft war Arekh vertraut, obwohl er sich nicht mehr recht erinnerte, wo er ihn kennengelernt hatte. Der Geruch wurde stärker, als sie auf dem Schiff eintrafen - einem richtigen, seetauglichen Schiff, das direkt am Ufer, nur einige Schritte vom Land und damit von der Gefahr entfernt, vor Anker lag. Was es
dort machte … schwer zu sagen. Durch welchen Zufall oder welche Torheit war es den Fluss hinauf bis ins Herz der Königreiche gelangt? Jetzt war es hier gestrandet und rührte sich nicht mehr, sondern war mit Teppichen, Laternen und Blumenkübeln geschmückt. Musikinstrumente lagen in den Ecken, und Verbannte - Männer wie Frauen - spielten leise auf der Krummflöte oder unterhielten sich mit gesenkten Stimmen.
    Der Herr der Verbannten führte die drei zu einem schweren, roten Teppich, der im Schein der Laternen wie Feuer leuchtete, und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Dann verschwand er aufs Neue.
    Die drei Flüchtlinge setzten sich. Lionor hockte sich auf ein Fass und starrte zu den verlassenen Kais hinüber.
    Arekh nutzte die Gelegenheit, zu Marikani hinüberzurücken. »Er hat nicht gelitten«, sagte er. »Ein Pfeil in der Kehle … Das geht schnell.«
    Sie machte eine kleine Kopfbewegung. »Meine Hoffnung ist mir abhandengekommen«, flüsterte sie. »Ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Nach so vielen Bemühungen, ihn zu retten. Das ist so … absurd!«
    Das ganze Leben ist absurd, Aya Marikani , hätte Arekh gern gesagt, das Leben ist absurd und grausam,

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