Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
Vom Netzwerk:
und allein die Götter wissen, was für ein Stoff aus den Fäden unseres Hasses gewoben wird.
    Aber er behielt seine Gedanken für sich. Sie ist nicht im selben Lehm geboren , wiederholte er sich eingedenk seiner Überlegungen im Korridor des Sommerpalasts. Sie war an einem Ort aufgewachsen, der von der Reinheit der Berge geschützt war.
    Sie unterschieden sich voneinander.
    »Ihr habt ihn … Wir haben ihn kaum gekannt«, erklärte Arekh. »Jeden Tag sterben Unbekannte zu tausenden -
und wir beweinen ihr Schicksal nicht. Auch Mîn war für uns fast ein Unbekannter. Er ist auf einem Bauernhof aufgewachsen … Was wussten wir abgesehen davon über sein Leben? Oder über seine Gedanken?«
    Marikani drehte sich zu Arekh um und starrte ihn an. In ihren großen, braunen Augen spiegelte sich flüchtig der Laternenschein wider. »Ja. Er ist nur ein paar kurze Tage lang durch unser Leben gehuscht, und ich habe kaum mit ihm gesprochen. Und jede meiner Entscheidungen wird, wenn ich denn je nach Harabec zurückkehre« - sie lachte leise - »das Schicksal tausender Leute von seiner Art beeinflussen, manchmal gar ihren Tod verursachen, ohne dass ich ihnen auch nur eine einzige Träne nachweine. Aber was soll ich sagen? So etwas lässt sich nicht rational erklären. Und außerdem … außerdem ist meine Reaktion, wie ich Euch schon im Sommerpalast erklärt habe, teilweise egoistisch.«
    Sie machte eine ausladende Geste, die alles Mögliche mit einzuschließen schien: die Stadt, die Verbannten, ihre Reise hierher …
    »All diese Misserfolge, diese Vergeudung. Die verlorene Zeit, die ich besser in Harabec hätte verbringen sollen, um die Steuereinnahmen aus der Ernte und aus dem Seidenhandel zu verwalten. Die Ratssitzungen, die ich nicht abgehalten habe, die Grenzen, die ich nicht verteidigt habe … Wenn ich mir nur vorstelle, in was für einer Katastrophe die Sache mit der Lagune geendet haben muss, da Baresk freie Hand hatte …«
    Arekh wusste beim besten Willen nicht, was sich hinter der »Sache mit der Lagune« verbarg; er wusste nur, dass Baresk ein kleines Gebirgsland südlich von Harabec war.
    Das hinderte ihn nicht daran zu nicken.
    »Nun ja«, fuhr Marikani fort, »ich wollte einfach, dass
sich aus diesem ganzen Desaster etwas Gutes, Sicheres, Greifbares ergibt. Das gerettete Leben eines Jungen von dreizehn Jahren - das wäre nicht von der Hand zu weisen gewesen. Ich hätte ihn im Palast erziehen lassen. Ich hätte ihm ein glückliches Leben geboten - mehr um meinetals um seinetwillen«, fügte sie mit einem leisen, bitteren Lachen hinzu. »Um mir sagen zu können, dass ich wenigstens in der einen Hinsicht Erfolg hatte.«
    Arekh sah zu, wie Rauch aus dem Schornstein eines großen Bürgerhauses am Ufer aufstieg - kräftig und hoffnungsvoll, nur um sich all seinem Enthusiasmus und seiner wattegleichen Schönheit zum Trotz ein paar Fuß weiter aufzulösen.
    »Ich habe unsere … Wette gewonnen«, sagte er sanft, »aber Ihr wisst, dass mir das keinerlei Befriedigung verschafft, nicht wahr?« Marikani nickte leicht, und Arekh fuhr fort: »Ich war derjenige, der seine Fesseln durchschnitten hat. Ich empfinde heute keinerlei Trauer … Wie gesagt, ich kannte ihn zu wenig. Aber ich verstehe, was Ihr empfindet. Ich bin zurück ins Wasser getaucht, um ihn zu befreien. Ihr und Eure Hofdame habt ihn durch die Berge und durch die Tunnel geschleppt … Es ist wirklich eine Verschwendung.«
    Lionor, die dem Gespräch mit halbem Ohr gelauscht haben musste, warf Arekh bei dem Wort »Hofdame« einen spitzen Blick zu, bevor sie sich wieder abwandte.
    »Aber so ist das Leben«, fuhr Arekh fort und ignorierte sie. »Warum wollt Ihr das Schicksal ändern? Wir haben alle unsere vorgezeichnete Rolle. Daran etwas ändern zu wollen, macht alles nur noch bitterer.«
    Marikani schüttelte den Kopf, den Blick aufs Wasser gerichtet. »Ihr könnt das nicht verstehen. Mir ist ein … ein Wunder zuteilgeworden«, erklärte sie. »Mein Schicksal hat
sich für immer verändert. Wenn Euer Leben sich auf die Weise gewandelt hätte, hättet Ihr dann keine Lust, dieses Wunder weiterzugeben, andere um Euch herum zu verändern? Eure Schulden zurückzuzahlen?«
    Arekh runzelte die Stirn. »Welches Wunder?«
    Marikani sah ihn einen Moment lang an, als sei sie überrascht oder angesichts einer plötzlichen Erkenntnis erstarrt, bevor sie den Kopf wegdrehte. »Nun ja … die Seuche. Ich bin einer fürchterlichen Epidemie entgangen, und man hat mir einen Thron

Weitere Kostenlose Bücher