Rune der Knechtschaft
im Jahre zwanzig des ayonischen Kalenders. Den Aufzeichnungen nach war es in dieser Zeit, in der die Menschheit gerade erst aus den Dunklen Zeitaltern nach dem Sturz des Gottes, dessen Namen man nicht nennt, hervorgetreten war, kalt gewesen - sehr kalt. Sogar so kalt, dass die eisige, nordöstliche Meerenge zugefroren war … Und auf diesem Weg waren die Flüchtlinge gekommen, abgehärmt, frierend und hungrig, aus ihren geheimnisvollen Landen im fernen Osten verjagt, von der Kälte oder von irgendeiner anderen Naturkatastrophe.
Es war unmöglich, den genauen Grund für ihren Aufbruch in die Fremde zu erfahren, denn ihre Sprache war nichtmenschlich, und man konnte sich nicht mit ihnen verständigen. Während die Bewohner der Königreiche allesamt eine Verkehrssprache sprachen, die auf das Hâna, die Sprache des Alten Kaiserreichs, zurückging, mit dem selbst die sonderbarsten Dialekte eine gemeinsame Wurzel hatten, ergab die Sprache des Türkisvolks keinen Sinn und wies für die damalige Bevölkerung der Königreiche keine erkennbare Grammatik auf. Der raue Akzent der Türkisleute war fremd und erschreckend. Und ihr Aussehen … eine weißliche Haut, so dünn, dass man darunter gelegentlich
zarte, blaue Adern aufschimmern sah, so blonde Haare, dass sie fast schon weiß waren, helle Augen, leuchtend blau, türkisfarben, eisig und unmenschlich.
Und der Zug nahm kein Ende: Sie kamen zu hunderten, ja zu tausenden. Die Tempel hatten nicht genug Nahrung für sie, auch nicht genug Platz, um sie alle unterzubringen.
Also hatte Ayona, der größte Kopf des Jahrhunderts, derselbe, der unter der Herrschaft eines Königs von Sleys, dessen Namen die Geschichte längst vergessen hat, einen Kalender erfunden hatte, der noch nach dreitausend Jahren gültig war … Nun, Ayona also hatte eine Erleuchtung gehabt. Von Um-Akr inspiriert hatte er im Sternbild des Rades die Linien der Rune der Gefangenschaft gesehen. Im Zentrum des Rades befand sich ein türkisfarbener Stern, der bisher in den religiösen Schriften noch nicht interpretiert worden war.
Die Wahrheit war eindeutig: Die Rune der Gefangenschaft umgab den türkisfarbenen Stern, umschloss ihn mit göttlicher Verdammnis.
Die Götter gaben das Türkisvolk in die Sklaverei.
Ein Beweis für Ayonas Interpretation hatte sich gefunden, als die Priester bemerkt hatten, dass die Mitglieder des Türkisvolks allesamt einen bläulichen Fleck zwischen den Schulterblättern hatten, ein Zeichen der Ehrlosigkeit und eines scheußlichen Verbrechens, das auf immer unbekannt bleiben würde, aber ihre ewige Verdammnis besiegelt hatte.
Nachdem sie zu Sklaven geworden waren, hatten die Mitglieder des Türkisvolks zunächst den Priestern und Tempeln gehört, bevor sie sich im Laufe der Jahrhunderte vermehrt hatten und an die Familien reicher Privatleute verkauft worden waren. Mit der Zeit waren die Sklaven
zu einem festen Bestandteil der Gesellschaft geworden: In manchen Regionen besaßen sogar arme Bauern ein oder zwei, die ihnen den Pflug zogen.
Die Sklaven waren nach göttlichem Recht gefangen: Nichts - noch nicht einmal der Wunsch oder das Geld ihrer Herren - konnte sie befreien. Das unbekannte Verbrechen, das sie begangen hatten, hatte ihre Seele geschwärzt. Wenn man zugelassen hätte, dass sie frei herumliefen, welche zusätzlichen Abartigkeiten hätten sie dann in die Gesellschaft eingebracht?
Arekh musterte Lionor stumm. Sie hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet.
Ein weiteres Mal fragte er sich, was er tun sollte. Lionor schien Marikani treu ergeben zu sein. Sie hätte im Laufe der Flucht viele Gelegenheiten gehabt, ihre Herrin zu verraten …
Natürlich hatte Marikani - wenn Arekh recht hatte, und dafür sprach der Blick, den sie vorhin Lionor zugeworfen hatte - sie aufgrund dieses entsetzlichen Geheimnisses in der Hand.
Ratsherr Viennes und Marikani waren schon wieder dabei, über den Brückenbau zu diskutieren. Arekh dachte weiter nach. Lionors wahre Natur war vielleicht nur ein Detail in den politischen Strömungen, die heute aufeinanderprallten - aber doch ein wichtiges Detail. Sie stand Marikani sehr nahe, und damit auch ihrem Ohr, wie es in Geschichten hieß. Welchen Einfluss mochte sie ausüben? Sie könnte so leicht Verrat begehen …
Wenn Marikani die Einzige war, die Lionors Geheimnis kannte, lag es dann nicht in Lionors Interesse, dass Marikani verschwand?
Doch nein, das allein war es nicht, was die zwei Frauen verband, das musste Arekh trotz der Feindseligkeit,
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