Rune der Knechtschaft
mit erhobenen Armen die langsamen, wohlberechneten Gesten der Anrufung aus, einen reptilienhaften Tanz, den sie an die Melodie anpasste und der an Kraft und Macht gewann, während sie jede Bewegung beschleunigte und das Lied mitzog: Die Verbannten beschleunigten ebenfalls ihren Rhythmus, bis der Gesang und der Tanz ein Ganzes bildeten.
Schließlich hielt Marikani schweißüberströmt inne. Ihre braunen Haare hingen aufgelöst herab; der Stoff glitt ihr von der Schulter. Die Verbannten stellten Laternen überall dort auf, wo sich die Linien der Rune kreuzten.
Die Luft war ruhig, lastend und still, als Marikani sich im Zentrum der Rune niederließ und sich konzentrierte.
Dann stand sie wieder auf und überstieg die Linie vorsichtig, bis sie außerhalb der Rune stand. »Möge niemand die Linien der Rune durchbrechen!«
Arekh hatte den Eindruck, dass die Luft oberhalb der Zeichnung leicht zitterte: Ein Leuchten schien von den Linien auszugehen.
»Und jetzt«, fuhr Marikani fort, »tanzt, singt, bewegt euch! Die Macht des Rituals ist aus euch geboren, aus eurem Gesang - euer Wille wird sie stärken! Je fröhlicher ihr seid und je mehr Lärm und Licht ihr macht, desto stärker wird der Zauber die Verbannten vor den Feinden und den Mächten der Nacht beschützen!«
Freudenschreie begleiteten ihre Worte, und die Verbannten nahmen ihr Fest wieder auf: Sie tanzten und spielten nun auf allen Booten, und die Wasseroberfläche war
ein lebendiges, bewegtes Bild, in dem Farben und Licht sich mit den kalten Spiegelungen der Nacht vermengten.
Die Ufer waren mittlerweile schwarz vor Menschen: Zahlreiche Stadtbewohner waren hinzugeeilt und fragten sich, was wohl über die Verbannten gekommen sein mochte, ein solches Fest abzuhalten, obwohl kein Sonnwendtag war. Manche versuchten, Marikani zu erspähen, die Prinzessin von Harabec, deren Gegenwart so viele Schwierigkeiten verursachte. Sie schwenkten Laternen und Kerzen, und Arekh fragte sich, ob ihr Licht und ihre Neugier ebenfalls dazu beitragen würden, den Schutzzauber zu verstärken.
Das Fest dauerte die ganze Nacht und einen Teil des Morgens; das Feuer wurde in Gang gehalten und loderte weiter hoch in den Himmel. Kein Gesandter des Emirs oder des Bürgermeisters ließ sich blicken. Sogar ohne die Schutzrune hätten sie sicher nicht nahe herankommen können: Es waren zu viele Menschen und damit zu viele aufmerksame Ohren da - und auch zu viel Licht.
Der folgende Abend brach ohne Neuigkeiten vom Ratsherrn an. Er hatte von zwei Tagen gesprochen, und die waren noch nicht um, also gab es eigentlich keinen Anlass zur Sorge. Aber Marikanis Anspannung stieg und belastete auch Lionor und Arekh.
Ohnehin war die Besorgnis nicht ganz unbegründet. Arekh wusste, was Marikani sich ausrechnen musste. Sie hatten Viennes am späten Nachmittag des Vortags verlassen. Wenn einer seiner Angestellten das Geheimnis von Reynes verraten hatte und zum Bürgermeister geeilt war, hatte er sicher einige Stunden benötigt, um vorgelassen zu werden und dann die Gesandten des Emirs vom Wahrheitsgehalt seiner Informationen zu überzeugen, während diese ihrerseits seine Identität überprüften …
Danach hatten der Bürgermeister und die Gesandten des Emirs vermutlich darüber nachgedacht, was dieses Bündnis zwischen Marikani und Viennes bedeutete. Sie mussten herausgefunden haben, wohin Viennes jemanden geschickt hatte und warum … Und all diese verlorenen Stunden führten ohne Zweifel auf diesen Tag, auf diesen Abend zu. Auf den Moment, in dem Marikanis Feinde, wenn sie gut unterrichtet waren, schließlich begreifen würden, dass sie keine Gelegenheit mehr haben würden, ihr zu schaden, wenn sie sich erst unter den Schutz der Fürstentümer begeben hatte.
Auf den Moment, in dem sie begreifen würden, dass sie rasch und entschieden handeln mussten.
Heute Nacht.
Am Abend wiederholte Marikani das Ritual. Die Flammen loderten wieder unter dem Nachthimmel, die Tänze und Gesänge begannen aufs Neue. Aber die Verbannten waren müde; die durchfeierte Nacht hatte Spuren hinterlassen. Die Freude war nicht mehr so spontan, der Jubel nicht mehr so lebhaft. Die Stadtbewohner, die weniger neugierig als am Vorabend waren, hatten nach und nach die Kais verlassen; die Ufer lagen beinahe völlig leer da, als die Nacht hereinbrach.
Die Monde waren hinter schwarzen Wolken verborgen, aber abgesehen davon deutete nichts auf ein Gewitter hin.
Magie , dachte Arekh sofort.
Marikani war nicht die Einzige, die mit den
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