Rune der Knechtschaft
einen Unbekannten nieder, der sich ihm näherte, und griff dann einen zweiten an, der aber entkam. Überhaupt sah man hier nichts. Der Schlamm besudelte Gesichter und Haare, und als die Verbannten sich auch noch einmischten, wurde es unmöglich, Freund und Feind zu unterscheiden.
Arekh verlor Marikani aus den Augen. Er entdeckte sie schließlich auf einem Boot, wo sie inmitten dessen, was von der Schutzrune übrig war, eine Fackel schwenkte.
»Vereinigung des Geists!«, schrie sie, und die Flammen schienen auf ihre Stimme überzugreifen, als sei sie die einzige Lichtquelle in einem Universum aus Schlamm und Dunkelheit. »Kommt zur Rune! Lasst uns den Schutz wiederherstellen!«
Nach kurzem Zögern begannen die Verbannten auf das Boot zuzuströmen. Die Männer des Emirs hielten inne; sie fragten sich sicher, was vorging und was folgen würde. Marikani nutzte das aus, indem sie Fackeln und Laternen verteilte.
»Stellt die Rune wieder her!«, rief sie, während sie eine Person auf jede Kreuzung der Linien stellte. »Nehmt die Waffe in eine Hand und ein Licht in die andere!«
Fünf Männer kletterten daraufhin mit langen Dolchen in der Hand aufs Boot, und neue Schreie stiegen in die Nacht auf, während das fürchterliche Geräusch von Stahl ertönte, der sich in Fleisch grub, und Menschen in Todesqual röchelten. Kinder begannen auf einem fernen Boot zu weinen, und getötete Verbannte trieben im Wasser, wo das
Blut einen noch schwärzeren Fleck bildete, der sich langsam ausbreitete. Arekh stieß den Leichnam einer Frau von sich, deren lange, schwarze Haare wie Algen aus dem See von Faez hinter ihr trieben, und wollte aufs Boot klettern. Dieses begann jedoch zu schwanken; er musste zurückweichen.
Die Soldaten des Emirs hatten sich in dem Versuch, Marikani zu erreichen, durch die Menge der Verbannten gehackt, wurden nun aber von der Überzahl aufgehalten. Blut floss die Linien der Rune entlang, das Blut der Ausgestoßenen ebenso wie das ihrer Feinde, und Arekh sah, wie der Herr der Verbannten einem Soldaten das Genick brach, der zu nahe an ihn herangekommen war, bevor er mit Fußtritten die Leichen - und zwar sämtliche Leichen - ins Wasser beförderte.
Marikani nahm eine Fackel in die Hände, platzierte Überlebende neu auf der Rune und rief mit lauter, klarer Stimme: »Bei Feuer, Wasser und Blut - hebt den Stahl, lasst das Licht erstrahlen! Fîrs Macht beschützt uns!«
Und sie begann zu singen, während ihr das Wasser aus den durchnässten Haaren tropfte; mit ihrer schlammbefleckten Kleidung wirkte sie wie eine Steinstatue. Die Verbannten fielen in das Lied mit ein, erst langsam, dann aus voller Brust.
Den Stadtbewohnern, die, vom Lärm aufgeschreckt, an den Fenstern zu erscheinen begannen, bot sich ein ziemlich seltsames Bild. Auf den vier verbundenen Booten hatte sich eine menschliche Rune aus Feuer und Stahl gebildet, während überall auf der Wasserfläche Verbannte Laternen und Kerzen entzündeten und Lichter und Schwerter schwenkten.
Die Männer des Emirs zögerten, berieten sich und traten dann langsam den Rückzug in die Dunkelheit an.
KAPITEL 10
Lionor und Arekh erwähnten das, was am Vorabend geschehen war, zunächst nicht. Erst am Abend, als die Blutspuren beseitigt waren und die Verbannten begannen, seltsame Melodien zu spielen, um ihre Toten zu ehren, trafen sie sich zum Teetrinken auf dem Schiff, auf dem vor einigen Tagen die Vereinigung des Geists stattgefunden hatte.
»Ich sollte Euch die Kehle durchschneiden und Euch den Krebsen vorwerfen«, sagte Arekh leise. Er schloss seinen Satz mit einem höflichen Lächeln, damit mögliche Beobachter glaubten, dass es sich um ein freundschaftliches Gespräch handelte.
»Ich habe keine Angst vor Euch«, sagte Lionor im selben Ton, auch sie mit einem breiten Lächeln.
Arekh schüttelte den Kopf. Trotz ihrer Worte war die Aggression zwischen ihnen beinahe verschwunden. So, als hätte sich ihr Hass im Kampf erschöpft oder als hätte ihre gemeinsame Reaktion, Marikani zu Hilfe zu eilen, einen Teil des Problems gelöst. Oder - so dachte Arekh - sie zumindest überzeugt, den Moment, in dem sie es ein für alle Mal lösten, etwas hinauszuzögern.
»Sie braucht Euch«, sagte er mit einer Kopfbewegung zum Boot hinüber. »Ich verstehe nicht, warum, aber es ist so.«
Lionor neigte höflich den Kopf. »Ihr nehmt mir die Worte aus dem Mund.«
Arekh hob sein Teeglas, als trinke er ihr zu, um ihr ein langes, glückliches Leben zu wünschen, und Lionor
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