Rune
erschrockene Frage auszudrücken, warum man selbst nicht dazugehörte.
»Wenn du morgen keine Lust auf ein volles Haus zu Erntedank hast, wenn du willst, daß wir den Tag unter uns verbringen, dann ist es kein Problem, alle anzurufen und abzusagen.«
Ein verführerisches Angebot – sehr verführerisch. Doch, ja … »Es geht schon. Wir können vermutlich alle etwas Abwechslung gebrauchen.«
»Ganz sicher?« fragte sie. »Meinst du, du erträgst Onkel James?«
»Onkel James«, wiederholte ich. Moms Bruder. Es wäre falsch, ihn das schwarze Schaf der Familie zu nennen; grau trifft es viel besser. Er war ein sehr netter Kerl, übertrieb es aber etwas. Es mußte erst noch ein Thema erfunden werden, über das er nichts wußte, und der Mann hatte auch keinerlei Gespür dafür, wenn er genug gesagt hatte. Doch wenigstens hatte er ein gutes Herz. »Ja, sogar ihn.«
Sie lächelte mich an und nickte leicht. »Zumindest können wir uns jetzt alle wieder beruhigen.«
»Wie meinst du das?«
»Chuck war doch bestimmt derjenige, der … all die anderen Dinge getan hat«, erklärte sie mit der leeren Hoffnung all derer, die nur die halbe Wahrheit kennen. »Und jetzt ist er fort.«
Ich murmelte etwas, das für sie zustimmend klingen sollte, doch innerlich war ich mir alles andere als sicher. Vor diesem Morgen hatten wir wenigstens gewußt, nach wem wir Ausschau halten mußten. Doch da Olaf nicht mehr Hürdenspringer benutzen konnte, waren Aaron und ich wieder am Anfang.
Wir wußten nicht, aus welcher Richtung er als nächstes kommen würde.
Als ich an diesem Nachmittag aufwachte, zeigte mein Wecker acht Minuten vor halb vier an. Ich drehte mich um und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien noch, aber weniger hell als vor einigen Stunden. Bäume wogten sanft hinter der Fensterscheibe, und Laub wirbelte, braune Hülsen, die längst schon trocken und brüchig waren. Seit einiger Zeit hatte es nicht geregnet, was ungewöhnlich ist für den November im südlichen Illinois. Doch es war so vieles passiert, was man kaum gewöhnlich nennen konnte.
Als ich dalag, fiel mir jemand ein, dem ich erst noch alles erzählen mußte: Phil. Olaf hatte sich viel Mühe damit gemacht, Menschen aus Aarons und meinem Umfeld herauszupicken, doch Phil hatte alles unbeschadet überstanden. Und das sollte auch so bleiben. Er würde ungefähr um halb acht heute abend ankommen, und ich mußte ihn sehen. Wenn man seine Gefühle für Mr. Goddard bedachte, war ich nicht sonderlich erpicht darauf, den Überbringer der schlechten Nachrichten zu spielen.
Ich stand auf, und das Zimmer hüllte sich für einen Augenblick in dunklen Nebel. Mein Hals pochte unter dem Verband. Meine Sicht wurde wieder klar, und ich verließ den Raum.
Aarons Tür war noch immer geschlossen.
Die Nachwirkungen von Moms Vorbereitungen für morgen hingen noch in der Luft und führten mich zur Küche. Ich roch einen Grüne-Bohnen-Auflauf, Orangen und Preiselbeeren, Bataten und Kürbispasteten, die auf der Anrichte abkühlten. Warme Düfte, vertraute Düfte. Die Art von Geruch, die einen in die Tage der ungebrochenen Sicherheit der Kindheit zurückbringt, als nichts durch die Haustür kommen konnte, um einem weh zu tun.
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte ich. Was die Welt da draußen auch für mich bereithielt, hier hatte ich eine kleine Oase der Ruhe entdeckt.
Das Fernsehen verkündete den Anfang der Beverly Hillbillies. Der amerikanische Traum im Overall. Sonderbar – der Fernsehapparat war sonst zu dieser Zeit nie an. Vermutlich brauchte auch Mom etwas Zerstreuung.
Das Telefon klingelte. Mom stand auf, doch ich sagte ihr, daß ich dranginge. Ich nahm nach dem dritten Klingeln ab.
»Chris? Ich bin’s, Shelly.«
Pause; meine stille Gefährtin während vieler dieser Prüfungen. »Hallo.«
»Bist du in Ordnung? Wir haben heute morgen alles über den Polizeifunk gehört, und jetzt werden die Namen mitgeteilt … Ich hatte selbst schon einen Herzinfarkt. Geht’s dir gut?«
»Den Umständen entsprechend, ja.«
»Es heißt, du wärst fast von einem der Pfeile getroffen worden.«
»Er hat mich am Hals gestreift. Es ist mit ein paar Stichen genäht worden. Fühlt sich an wie ein aufgekratzter Ellbogen.«
»Du Armer«, sagte sie sanft und tröstend, und ich versank im Klang ihrer Stimme, bis raschelndes Papier durch die Leitung drang. »Warum kommt mir der Name Chuck Horton bekannt vor?«
»Ich habe ihn dir beim Spiel vorgestellt. Du hast ’ne Gänsehaut gekriegt, weißt
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