Rune
längere Zeit in dessen Umgebung verweilen zu können.
Doch die Nacht war sehr kühl, also ging ich die knarrenden Stufen zur Terrasse hinauf. Die Bretter quietschten unter meinen Füßen, und ich klopfte an die Vordertür. Seine Mutter öffnete, eine hochgewachsene Frau, die nur aus Knöcheln zu bestehen schien und langsam grau wurde, älter als meine oder Ricks Mutter. Sie behandelte mich wie ein Gespenst, bis sie mir im Wohnzimmer erklärte, daß sie alles über die Sache an der Schule im Radio gehört hatte.
Ich setzte mich aufs Sofa und wartete, und das Kissen sank unter meinem Gewicht beträchtlich ein. Mrs. Markley ging derweil ihren Aufgaben in der Küche nach und kochte Chili für Phil. Glücklicherweise hatte sein Vater Nachtschicht, so daß ich mich nicht mit ihm abgeben mußte, und um die Zeit totzuschlagen, blätterte ich durch einen Stapel von Heim und Garten voller Eselsohren, der auf dem Kaffeetisch lag.
Phil kam an, kurz nachdem die Kuckucksuhr acht geschlagen hatte. Er stolperte durch die Haustür mit einem Koffer in der einen und einem Kleiderstapel über der anderen Hand. Eine Brise kalter Luft schnitt durch die Mauer von fast erstickender Wärme im Wohnzimmer.
Er sah mich und grinste, sagte Hallo. Dann formte er die Worte: »Ist Aaron wieder zu Hause?«
Ich nickte. »Ja, es geht ihm gut.«
Mrs. Markley kam aus der Küche, wischte ihre Hände an einem Handtuch ab und umarmte Phil. Über ihrer Schulter verdrehte er die Augen. So standen sie einen Moment lang da, wie ein ehernes Mutter-und-Sohn-Standbild.
Sie ließ ihn los, lächelte ihn an und äußerte Befürchtungen, daß er in der Schule nicht richtig essen würde. Eine nicht ganz unbegründete Furcht.
Dann sah sie mich an, wobei ihre Stirn sich in Falten legte und das Lächeln ihre Augen verließ. Und dieser Blick schnitt mir geradewegs ins Herz. Denn ob sie es bewußt tat oder nicht, sie beschuldigte mich, die Übel der äußeren Welt über ihre Türschwelle zu bringen, in ihr Heim. Und sie hatte wohl alles Recht der Welt, das zu tun, denn es stimmte ja.
»Du willst jetzt vermutlich mit Chris reden«, sagte sie, schaltete dann den Fernseher an und ließ sich in einem plumpen Sessel nieder.
»Komm, ich helf dir«, sagte ich und hob den Koffer vom Boden.
Er warf einen Blick auf den Verband an meinem Hals. »Was ist denn mit dir passiert? Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«
»Ja.« Ich folgte Phil über einen engen Flur, der voller Bilder aus der familiären Vergangenheit war. Seine Eltern am Anfang ihrer Ehe, Phil und seine ältere Schwester als Kleinkinder. Da sie fünf Jahre älter war als er, waren sie natürlich nie zur gleichen Zeit auf einer Stufe. Phil war ein dickliches Kind mit sehr kurzem Haar gewesen.
Er führte mich in sein Zimmer, einen kleinen Würfel, der außer uns wohl niemanden mehr hätte aufnehmen können. Ich stellte den Koffer neben dem Bett ab und schloß die Tür; Phil neigte neugierig den Kopf zur Seite.
»Wie waren die letzten Schultage?« fragte ich.
»Ganz anständig«, sagte er, zog seinen Mantel aus und fing an, seine mitgebrachten Kleider aufzuhängen. »Ashley hat heute nachmittag nach dem Unterricht Barkeeper gespielt. Da waren ein Dutzend Leute in unserem Zimmer. Ich hab’ vorbeigeschaut, um dich zu fragen, ob du auch Lust hättest, und da hat mir Greg das mit Aaron erzählt. Was war nur los mit ihm?«
Ich atmete tief ein. Es würde nicht leicht werden. »Aaron hatte einen Verdacht, und das hat ihm angst gemacht. Er ist abgehauen, um einfach nur nachzudenken.«
»Was soll das heißen, er hatte einen Verdacht?« Phil hängte die restlichen Kleider auf und wandte sich mir dann zu. »Das hat doch nicht etwa was mit Bobby Dennison und -«
Ich nickte und ließ mich auf seinem Stuhl am Schreibtisch nieder.
»Oh, Scheiße«, sagte Phil und hob eine Hand vor den Mund. Er lehnte sich auf seinem Bett zurück. »Was geht hier ab, Chris?«
»Aaron hat gedacht, daß Hürdenspringer der Schuldige ist.«
Phils Augen waren auf mich geheftet. »Und hatte er recht?«
»Ja.« Ich legte einen Finger auf meinen Verband. »Das hier ist nicht beim Rasieren passiert. Heute morgen hat man mir fast den Kopf an die Wand genagelt. Ich bin mit Aaron zur Schule gegangen, und … und dann ist Hürdenspringer mit einer Armbrust aufgetaucht.« Meine Augen senkten sich zu Boden; Phils Gesichtsausdruck nach diesem Schlag war mehr, als ich ertragen konnte. »Er ist Amok gelaufen, und er … hat’s nicht
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