Rune
du noch?«
»Ach ja, stimmt.« Sie machte ein Geräusch des Ekels. »Da habe ich zum ersten Mal erfahren, wie es ist, von Blicken vergewaltigt zu werden.«
Ich erinnerte mich an Hürdenspringers Blick an jenem Abend, so gierig und schmutzig. Und gemein, als wäre er zu allem fähig. Und seine Hände, so rot und rauh, als hätte er sie gerade erst saubergeschrubbt …
»Vielleicht weißt du das nicht, aber bringt die Polizei ihn auch mit den anderen Sachen in Verbindung?«
»Inoffiziell ja. Sie müssen erst noch konkrete Beweise finden, bevor sie den Fall abschließen, aber das wird wohl nicht lange dauern.«
Und trotz all des Elends und des endlosen Leids, die er verursacht hatte, fühlte ich fast Trauer um Hürdenspringer. Niemand würde sich an ihn als einen fetten Jungen ohne Freunde erinnern, der alles daran gesetzt hatte, von den Leuten gemocht zu werden. Nein, sie würden sich an ihn als ein verbittertes Ungeheuer erinnern, das die Leute zerstört hatte, die nicht seine Freunde sein wollten. Sie kannten den Hürdenspringer hinter der Armbrust, aber nicht den, der fast geweint hatte, als er sah, daß sein Arsch hellblau bemalt war.
»Ich versuche mir gerade vorzustellen«, erklärte ich, »was man in den nächsten zwei Wochen alles über Chuck sagen und schreiben wird. Das wird wohl eine nationale Schlagzeile werden.«
»Oh, natürlich. Ich habe es schon der staatlichen Nachrichtenagentur zugefaxt.« Sie seufzte. »Sie werden darüber berichten, daß er ein Einzelgänger war. Sie werden seine Nachbarn interviewen, die darüber bestürzt sein werden, daß er zu so etwas fällig war. Sie werden mit seinen Lehrern reden, und die werden sich daran erinnern, daß er im Unterricht nie ein Wort gesprochen hat und vielleicht seinen inneren Schmerz in Gedichten und Essays ausgedrückt hat. Sie werden ihn zu einem Freak machen.«
»Ja«, sagte ich und schloß die Augen. Vielleicht hatte Hürdenspringer nun irgendwo seinen Frieden gefunden. »Was deine Rolle dabei angeht, sei bitte nett zu ihm. Denn egal, was sie auch über ihn zu wissen glauben, die ganze Wahrheit werden sie nie kennen.«
Sie antwortete nicht sofort, und das einzige, was ich hörte, war eine Schreibmaschine im Hintergrund, die endlos klapperte.
»Ich habe gestern Crighton gefunden.« Sie wollte etwas anderes sagen, aber ich ließ ihr keine Chance. Denn von da an mußte ich die Kontrolle über die Unterhaltung an mich reißen. »Wir haben lange miteinander geredet. Nun, meistens hat er gesprochen. Aber ich weiß jetzt, was es ist. Ich weiß, was und warum. Ich weiß alles, nur nicht, wie ich es aufhalten kann.«
»Wann sehen wir uns, damit du mir alles mitteilen kannst?«
Olaf hatte einige schmerzvolle Wendungen in meinem Leben herbeigeführt; nun mußte ich den Rest alleine durchstehen. »Das geht nicht. Zu gefährlich für dich.«
»Ach, komm runter«, sagte sie und ließ ihre Stimme zu einem Flüstern sinken, glich das aber mit Heftigkeit wieder aus. »Spar dir bitte diesen chauvinistischen Mist. Es betrifft auch mich, vergiß das nicht, und ich habe dir geholfen -«
»Das stimmt, das hast du«, fiel ich ihr ins Wort. »Und nun ist nichts übrig, und ich will nicht noch mehr Leute ins Unglück reißen. Denn es war alles meine Schuld, von Anfang an.«
»Chris … wann …« Ihre Stimme klang jetzt bedeutend sanfter.
»Ich habe ein Gefühl, daß es nicht mehr lange dauern wird. Und wenn es vorbei ist, können wir uns vielleicht zusammensetzen, und dann spendiere ich dir endlich diesen Drink.« Mein Hals wollte sich zusammenziehen, um die Worte zu ersticken. »Und vielleicht schreibe ich dir heute abend einen Brief, nur für den Fall, daß ich … nicht mehr …«
»Sei bitte vorsichtig, hörst du mich?« Ihre Stimme war wieder ein Flüstern, dieses Mal bebend. Ich fragte mich, ob sie je um mich weinen könnte, und ein Teil von mir hoffte es. Denn während der letzten Wochen hatte ich viel über uns beide phantasiert, Tagträume, die niemals das Licht der Erfüllung erblicken würden. »Versprochen?«
»Ja«, flüsterte ich rasch zurück und hängte dann ein, bevor einer von uns die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen, was wir später bereuen könnten.
38.
Trotz des elterlichen Protests (mehr von Moms Seite als von Dads) verließ ich an jenem Abend das Haus und fuhr zu Phil. Sein Duster stand nicht in der Einfahrt, also überlegte ich, im Auto zu warten. Angesichts dessen, wie sein Vater ihn früher behandelt hatte, bezweifelte ich,
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