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Rune

Rune

Titel: Rune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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anderen Ende wieder herauskam, dachte ich, etwas im Gras vor mir zu sehen. Nicht weit entfernt, fünfzehn oder zwanzig Meter. Etwas in trübem Grau. Ich ging näher heran.
    Es war ein Block aus Stein, halb im Grund vergraben, von Unkraut überwachsen. Er sah aus, als sei er einmal der Grundstein für ein Haus gewesen. Phil hatte mal erzählt, daß Tri-Lakes früher ein Bauprojekt gewesen war, und ich hatte gedacht, daß man die Pläne verworfen hätte, bevor die Bauarbeiten begannen. Doch ein eingehender Blick auf den Stein verriet mir, daß er viel älter als nur ein paar Jahre war. Ich trat dagegen. Er stand fest im Grund.
    Als ich den gleichen Weg wieder zurückging, hielt ich bei dem größten Baum. Starrte ihn an, wie ich es in der Nacht getan hatte, als wir Tri-Lakes gefunden hatten. Die rauhe Rinde sah aus wie die dicken, dunklen Schuppen eines schlafenden Drachen.
    Willkommen, fühlte ich ihn sagen. Ich habe lange, lange Zeit gewartet.
    »Was stimmt nicht mit dir?« murmelte ich.
    Wir kommen dich holen.
    Waren jene zwei Stimmen in Wahrheit ein und dieselbe? Dieser Ort – die erste Nacht der Entdeckung, die Sache mit Dennis Lawtons Leiche, der Wind Freitag nacht und Ricks Bär. Das alles schienen Bruchstücke vom Rand eines Puzzles zu sein, dessen Mittelteil unvollständig blieb.
    »Was stimmt nicht mit dir?« Der Baum starrte herab, stumm und höhnisch. Und da wußte ich, daß ich immer wieder hierher kommen mußte, bis ich es herausgefunden hatte. Ich hatte keine Wahl.
    So spielt das Schicksal.

9.
     
    Am nächsten Dienstag arbeitete ich den gesamten Tag, kam müde und erschöpft nach Hause und schlief fast im Stehen unter der Dusche ein. Ich aß früh zu abend; Mom hatte einen Vorrat kalter Speisen bereitgestellt, da sie und Dad am nächsten Morgen für einige Tage zu einem Seereservat in Kentucky fahren wollten. Wie ein Sterbender, der in der Wüste nach Wasser sucht, kroch ich schließlich auf den Boden meines Zimmers und nickte ein. Ich hätte vielleicht bis zum nächsten Morgen dort geschlafen, hätte ich nicht Besuch bekommen.
    Mein Besucher kam kurz nach halb acht an. Ich sah sofort auf den Wecker, nachdem ich von schweren, polternden Schritten in der Diele geweckt worden war. Ich schloß wieder meine Augen, um zu lauschen, und blinzelte schwach durch meine Lider. Man kann nie vorsichtig genug sein.
    Abgetragene Turnschuhe erschienen im Türspalt, am linken löste sich bereits der Saum. Meine Augen wanderten über Jeans und ein prall gefülltes Army-Shirt und weiße Schultern, bis ich sah, wie Hürdenspringer Horton mich mit gelangweiltem Gesicht von oben herab anstarrte. Ich wollte nichts mehr, als mich umzudrehen und ihm den Rücken zuzuwenden. Er verlagerte seine beträchtliche Masse von einem Fuß auf den anderen, wobei der Fußboden knarrte, und hustete dann laut. Ohne die Hand vor den Mund zu halten.
    Es hatte keinen Zweck. Er würde die ganze Nacht über hier Wache stehen, wenn es sein mußte. Ich gähnte, streckte mich und setzte mich auf, mit dem Rücken gegen mein Bett. »Hallo, Hürdenspringer.«
    Er nickte. »Hast du geschlafen?«
    Ich reckte mich, um mein Rückgrat mit einem zufriedenstellenden Knacken einzurenken. »Nein, ich hatte schon soviel über Koma gehört, daß ich es auch mal ausprobieren wollte.«
    Er trat ein und setzte sich an meinen Schreibtisch (fühl’ dich nur wie zu Hause, Hürdenspringer). »Ich hab’ mal vorbeigeschaut, weil ich dachte, Aaron wollte vielleicht was unternehmen, aber deine Mutter hat gesagt, er wäre noch auf der Arbeit. Sie hat gesagt, ich sollte dich mal fragen. Hast du Lust?«
    Ich täuschte Bedauern vor. »Tut mir leid, Hürdenspringer, aber mir geht’s heute nicht so gut. Eigentlich schon seit zwei Tagen nicht. Vielleicht sind das ja Depressionen. Ich kannte mal ein Mädchen, bei dem hat es genauso angefangen.«
    Hürdenspringer nickte, als verstünde er, doch ich glaube, er hatte einfach nur viel Übung darin. »Oh, sicher. Du solltest auf dich aufpassen.«
    »Ja, drück’ mir die Daumen.«
    Ein Moment der Stille, der mit Hürdenspringer genauso sonderbar war wie eine Konversation. Dann fischte er in seiner Hosentasche und zog einen Schokoriegel hervor. Das Packpapier war schmutzig und zerknüllt, und der Riegel irgendwo in der Mitte zerdrückt. Er schälte das Papier ab, knüllte es zusammen, zielte auf meinen Papierkorb und traf daneben. Als Notmaßnahme schaltete ich die Anlage ein und spielte die nächstbeste Kassette, um sein

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