Rune
werden konnten, wenn auch nur heimlich, um niemanden zu beleidigen.«
»Sehr diplomatisch«, sagte ich.
»Das kann man wohl laut sagen!« kicherte er, um dann lässig mit den Schultern zu zucken. »Doch war das keineswegs eine glückliche Lösung. Und diese Geschichte dient nur als Hintergrund für die nächste. Das eben Erzählte ist geschichtliches Allgemeinwissen. Man kann es in jedem guten Buch zum Thema finden. Auch in meinem. Aber was ich dir als nächstes erzählen werde, ist ein gutes Stück merkwürdiger.« Er lächelte grimmig. »Und die Glaubwürdigkeit kann durchaus angefochten werden.«
Soviel zur Geschichtsstunde, dachte ich. Jetzt kommen die Legenden.
»In der Tat betreten wir nun das Reich, das dich als Junge so fasziniert hat. Die rollenden Köpfe, wie du es genannt hast. Du weißt doch sicher, was die Sagas sind.«
Das wußte ich. Nachdem das Zeitalter der Wikinger nur noch Geschichte war, hatten skandinavische Gelehrte des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ihnen ein Denkmal gesetzt. Sie schrieben die Sagen und Legenden nieder und schufen so eines der größten Werke mittelalterlicher Literatur: die Isländischen Sagas.
»Sie handelten von der Geschichte einer Familie oder eines Clans oder dem Leben eines großen Mannes. Als Literatur sind sie brillant. Als historische Tatsachen, na ja …« Crighton machte eine unverbindliche Handbewegung. »Viele sind nicht sehr genau. Manchmal haben die Chronisten es etwas übertrieben. Trotzdem sind manche der Sagen sehr bekannt geworden, wenn das auch auf die fragliche nicht zutrifft. Es ist ein merkwürdiger kleiner Text namens Thorfinnssaga. Schon davon gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann mach’s dir bequem und sei mal gespannt«, sagte er, doch eine merkwürdige Schwere in seiner Stimme ließ mich ahnen, daß es keine angenehme Zerstreuung sein würde. »Wie du dir vermutlich denken kannst, handelt sie vom Leben eines Mannes namens Thorfinn. Thorfinn Schneebart wurde er genannt, weil sein Bart völlig weiß war, seit er ein junger Mann war.« Er gab mir einen Auffrischungskurs über isländische Nachnamen, wie sie entweder aus dem Namen des Vaters oder aber aus einer beschreibenden Phrase gebildet wurden. Das hatte ich zwar nicht nötig, hörte aber trotzdem still zu.
»Thorfinn Schneebart wurde im Jahre 992 Patriarch seines Clans, als er ungefähr fünfunddreißig war. Sie lebten in der Nähe von Reykjavik, am südwestlichen Ende von Island. Dort, wo Reagan und Gorbatschow ihre Gipfeltreffen abgehalten haben. Die Saga behauptet, Thorfinn sei ein früher Anhänger des Christentums gewesen und schon 998 von einem norwegischen Missionar getauft worden. Und natürlich war er als Stammeshäuptling anwesend beim Althing, als die Vorherrschaft der Christen verkündet wurde. Von da an war er äußerst verstockt gegenüber allen, die noch immer den heidnischen Göttern treu blieben. Er war dagegen, daß man heidnische Opfer darbringen durfte, hielt sich aber an das Gesetz.
Diese Saga handelt ebenso sehr von Thorfinn wie von einem anderen Mann – einem Mann namens Olaf der Schwarze. Er war viel jünger als Thorfinn, ungefähr achtzehn im Jahre 1000. Unerbittlich lehnte er es ab, sich zum Christentum zu bekehren, und wurde der Führer und Hohepriester einer Gruppe von Menschen, die ebenso dachte wie er. Sie verweigerten sich alle den Massentaufen, die dem Entschluß des Rates folgten. Und sie wurden zu Abtrünnigen. Sie legten ein Verhalten an den Tag, das selbst damals gesellschaftlich nicht annehmbar war – Inzest, Nekrophilie, Sodomie. Und sie waren äußerst brutal. Olaf wurde als Berserker bekannt. Eine seiner bevorzugten Arten, gefangene Feinde loszuwerden, waren fast identisch mit dem Tod des ersten Jungen, den du erwähnt hast. Die Rippen wurden vom Rückgrat weggeschnitten und die Lungen wie Flügel über den Rücken und die Schultern gelegt. Das nannte man einen ›Blutadler‹. Und gleich, auf welche Art er jemanden tötete, Olaf hatte stets große Freude daran, die Leiche an einen Baum zu knüpfen. Wie eine Trophäe, wenn man so will.«
Ich erinnerte mich, wie White Trash Joe mir von dem Bauarbeiter erzählt hatte, der sich ohne ersichtlichen Grund bei Tri-Lakes aufgehängt hatte.
»Es wurde auch gemunkelt, daß er zu Thor beten konnte, auf daß dieser Blitz und Feuer schicke, um seine Feinde zu verbrennen. Ich weiß nicht, ob das nur eine Grille des Erzählers ist oder ob es da wirklich ein Körnchen Wahrheit gibt. Ich bin
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