Runen
erzeugt, schön oder hässlich, je nachdem, und den Menschen wird weisgemacht, sie habe etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Viele moderne Menschen glauben, die Welt sei genau so beschaffen, wie sie dort erscheint. Ein weiterer Beweis dafür, dass es möglich ist, die Menschen von was auch immer zu überzeugen, wenn sie nicht in die Lage versetzt werden, zwischen Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden. In früheren Zeiten betrachtete man solche Leute als wirklichkeitsfremd, gar verrückt, und sie wurden überdies in Anstalten |53| für Geisteskranke weggesperrt. Die Lügenbarone aus den Machtkreisen von Hochfinanz und Politik haben mit Hilfe des Fernsehens die Verhältnisse völlig umgekehrt. Nunmehr sind es wir wenigen, die die Welt noch ohne Täuschung wahrnehmen, die für verrückt erklärt werden, für in der Vergangenheit verhaftet. In der Welt ist es heute so, dass die Geisteskranken die Macht übernommen haben.«
Melkorka sah ein schelmisches Lächeln über Beinteinns Lippen huschen und war sich deshalb nicht ganz sicher, ob es ihm mit dieser Suada wirklich ganz so ernst war.
»Wie du siehst, bin ich ein Mann der Schrift«, fuhr der Dichter fort und deutete mit seinem hageren Zeigefinger auf die Regale, die alle Wände des Zimmers bedeckten. »Aber nur eines ist auf dieser kugelrunden Welt selbstverständlich:
memento mori!
Ich bin mir sicher, dass wir Menschen des Geistes aussterben werden wie jene Reifriesen, und zwar in dem Moment, da das letzte Eis des Nordpols geschmolzen ist und die Konzerne der Bösartigkeit ihre blutsaugenden Bohrinseln dort errichten werden, wo jetzt noch die majestätischen Eisberge in ihrem Frieden dahingleiten. Wie überall wird auch dort das Schöne zum Hässlichen dahinwelken, so will es das Gesetz des Lebens.«
Für einen Augenblick ließ Beinteinn den Blick auf Melkorkas Brust ruhen.
»Die Jugend ist meinem Geist nur eine bildhafte Erinnerung, nichts anderes, leider«, sagte er seufzend. »Du aber bist sicher nicht hierhergekommen, um dem Unsinn eines alten Mannes zu lauschen, den es manches Mal nach dem Unmöglichen verlangt: im Leibe wieder jung zu werden.«
»Hat nicht irgendwer mal behauptet, das Alter sei nur eine Frage des geistigen Zustands?«
|54| »Wer einen solch blühenden Unsinn behauptet, weiß nicht, was es heißt, alt und nicht länger Herr über seinen Körper zu sein.«
Melkorka nahm eine Kopie der ersten Seite aus Höskuldur Steingrímssons Notizbuch aus ihrer Tasche und reichte sie dem Dichter.
»Mein Großvater hat das hier geschrieben«, erklärte sie. »Aber ich kann nicht ein einziges Wort davon lesen.«
Beinteinn zog eine dunkle Brille aus der Brusttasche seiner grünen Lederweste und überflog das Blatt.
»Dein Großvater hat nach altem Brauch mit den Runen gespielt«, stellte er fest und blickte auf. »Was aber fängt eine junge Nymphe der Schönheit, die zu Liebe und Vergnügen geschaffen ist, mit altem Runengekrakel an?«
»Ich hoffe, dass in diesen Runen ein paar Antworten auf Fragen zu finden sind, die mir keine Ruhe lassen«, antwortete Melkorka und erläuterte ihm in kurzen Sätzen die Vorgeschichte.
»Verstehe ich dich richtig, dass dies die erste Seite aus dem Tagebuch ist, das dein Großvater während des Krieges in Deutschland geführt hat?«
»Davon gehen wir aus, ja.«
Beinteinn schloss die Augen wieder, so als wäre er in tiefe, schwere Gedanken versunken.
»Tja ja«, sagte er schließlich, öffnete die Lider und strich mit dem rechten Zeigefinger über die Illustration, die den oberen Teil der Seite bedeckte. »Die Erzählung beginnt mit dieser Warnung.«
»Was für eine Warnung?«
»Die erste Seite eines Buches gleicht dem Eingang in ein Haus«, sprach der Dichter mit andächtiger Miene. »Der |55| Beginn der Reise in die Welt des Buches. Der Autor hat hier drei große Runen als Zierunzialen gesetzt. Die Rune
Þurs
sowohl zur Linken als auch zur Rechten und die Rune
Nauð
zwischen beiden, um jene zu verbinden. Und es scheint mir, als erkennte ich ein winziges Bild in der Mitte zwischen den beiden
Þurs
-Runen.«
»Im Ernst? Das habe ich gar nicht bemerkt.«
»Da ist die kleine Zeichnung eines Totenkopfes.«
»Was bedeutet das?«
»
Þurs
ist die Rune des Donnergottes Þór und bedeutet Gefahr und Tod.«
»Gefahr und Tod?«, wiederholte Melkorka.
»Hier sind zwei
Þurs
-Runen von der Rune
Nauð
zusammengebunden, der Schicksalsrune, und das vermehrt die Gefahr um die Hälfte«, fuhr Beinteinn fort. »Das heißt,
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