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Runen

Runen

Titel: Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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eingestehen, dass sie nie genügend Interesse für den langen Lebensweg ihres Großvaters aufgebracht hatte, um ihn über seine Vergangenheit zu befragen.
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    Dienstag, 1. Mai
    Dichter Nebel lag über Heimaey, als Höskuldur Steingrímsson in der kleinen Inselkirche Landakirkja die letzte Ehre erwiesen wurde. Die Nebelschwaden verhüllten die Felsen des Hafens, den 1973 am Ortsrand entstandenen Vulkan Eldfell und zogen sich bis über die südlichste Landspitze Stórhöfði hinaus. Dicke, graue Schleier lagen auch über der Ansiedlung von etwa fünftausend Seelen, die sich am Hafen im Nordteil der Insel zusammendrängte.
    Am Vorabend waren Melkorka, Kári, Darri und Helga im Taxi direkt vom Flughafen zum Friedhof neben der Landakirkja gefahren, wo sie einen Strauß roter Rosen auf Steingrímurs Grab niedergelegt hatten. Melkorkas Vater war neben seiner Mutter beerdigt worden, die Melkorka nur von einem alten Hochzeitsbild kannte. Ihr Großvater hatte an den Gräbern der beiden die gleichen Grabsteine aus Basalt aufstellen lassen.
    Die Zeremonie in der Kirche fand unter breiter Anteilnahme der Öffentlichkeit statt, da Höskuldur einige Jahrzehnte lang in der hiesigen Grundschule unterrichtet hatte. Viele, die sich in der Landakirkja einfanden, um ihren ehemaligen Lehrer zu verabschieden, hatten bei ihm Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Einige erzählten davon während des Leichenschmauses, der anschließend im Versammlungsraum der Kirche stattfand.
    |64| Höskuldurs Wohnhaus stand im alten Westteil der Ortschaft, der 1973 der enormen Zerstörungskraft eines völlig unerwarteten Vulkanausbruches entgangen war. In der Winternacht des 23. Januar war die Erde nach fünftausendjähriger Ruhe ohne Vorwarnung aufgebrochen, und eine anderthalb Kilometer lange Vulkanspalte – nur hundertfünfzig Meter vom östlichen Ortsrand entfernt – hatte die Stadt mit Asche überschüttet. Ein glühender Lavastrom war aus der Spalte hervorgebrochen und hatte sich während der nächsten Wochen über fast ein Drittel der Stadt hinweggewälzt. Die Grundfläche von Höskuldurs Haus betrug lediglich siebzig Quadratmeter, es hatte aber zwei Stockwerke und ein steiles Dach. Das erwies sich während der Eruption als Vorteil, als sich mehrere Meter dicke Aschelagen mit entsprechendem Gewicht über Häuser, Straßen und Gärten und die ganze Insel gelegt hatten; so blieb Höskuldurs Haus bewohnbar. Heute waren die Wände weiß gestrichen, die Fensterrahmen, Türen und das Dach waren in schwarzer Farbe gehalten. Im Erdgeschoß befanden sich die Küche, eine Waschküche und das Schlafzimmer, in dem die Haushaltshilfen während der Jahre untergebracht gewesen waren, in denen Höskuldur Unterstützung bei der täglichen Sorge für seinen Sohn gebraucht hatte. Im oberen Stock lagen sein ehemaliges Schlafzimmer, ein kleines Kinderzimmer, ein Wohnzimmer und eine Bibliothek, in der er stundenlang diverse Schriften über nordische Geschichte und Literatur zu Runentexten studiert hatte.
    Melkorka hatte noch gut in Erinnerung, welch großen Wert ihr Großvater darauf gelegt hatte, dass alles in der Wohnung an seinem Platz und sauber aufgeräumt war. |65| Nicht zuletzt galt das auch für sein Arbeitszimmer. Darin gab es zahlreiche Regale mit isländischen und deutschen Büchern über nordische Geschichte, Mythologie und Runen. Daneben standen Wörterbücher und Nachschlagewerke in verschiedenen Sprachen zur Geschichte der germanischen Völker und Werkausgaben vieler isländischer und nichtisländischer Autoren. Melkorka waren Gunnar Gunnarsson und Knut Hamsun schon bekannt gewesen, während sie von Sven Hedin und manch anderen noch nie etwas gehört hatte.
    Ein kleines Gemälde, das in schwarzem Rahmen über der Kommode im Schlafzimmer ihres Großvaters hing, fesselte Melkorkas Blick. Es zeigte eine grandiose Gebirgslandschaft mit vielen Hügeln und Gipfeln. Auf einem der Berge war ein großes Gebäude zu sehen, das am ehesten einer Burg glich.
    »Ich bin mir sicher, dass davon auch ein Foto in dem Notizbuch ist«, sagte sie.
    »Das ist Montserrat in Katalonien«, erklärte Kári.
    Melkorka nahm das kleine Bild von der Wand und betrachtete eingehend die Felswände, Gipfel und Gebäude. Das größte Bauwerk, das hoch über der Umgebung des Berges thronte, war länglich und hatte mehrere Stockwerke.
    »Ich habe mal einen interessanten Tagesausflug dorthin gemacht, als ich 2002 bei den Wettkämpfen in Barcelona war«, fuhr Kári fort. »Wenn ich mich

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