Runen
durcheinanderbrachten.«
»Was für ein Runenalphabet hat Höskuldur denn überhaupt verwendet?«, erkundigte sich Kári.
»Mir wurde sofort klar, dass der Autor seine eigene Version des ältesten Runenalphabetes verwendet hatte. Es ist |77| das Alphabet namens
Fuþark
, aber mit 26 Zeichen anstatt 24. Es war in Nordeuropa bis etwa um das Jahr 800 am weitesten verbreitet. Die zwei Zusatzzeichen haben mir lange Kopfzerbrechen bereitet. Bis ich bemerkte, dass sie immer an denselben Stellen im Text standen.«
»Das heißt?«
»Sie bildeten entweder den ersten oder den letzten Buchstaben eines Wortes, manchmal sowohl als auch. Das erschien mir nun als ausgesprochen seltsamer Zufall, und das führte schließlich dazu, dass mir ein Licht aufging!«
Beinteinn lächelte. Er verheimlichte nicht, wie stolz er auf seinen Geistesblitz war.
»Lass hören!«, forderte Kári ihn ungeduldig auf.
»Diese zwei Runenbuchstaben, die in der Tat von derselben Art waren wie der siebzehnte und achtzehnte Runenbuchstabe im Alphabet des Geheimcodeexperten Guido von List, stellten sich als Lettern zum Zwecke der Täuschung heraus. Sie wurden nur dazu eingesetzt, um die Leser zu verwirren, die nicht in die Runen des Autors eingeweiht sind«, erklärte der Dichter. »Als ich so tat, als gäbe es sie nicht, traten mir die isländischen Wörter so klar vor Augen wie die Goldklunker in den Klüften von Klondike.«
»Ausgezeichnet«, erkannte Melkorka aufgeregt an.
»Als Zweites erschwerte mir das Lesen zu Anfang, dass der Autor die Runen in einer bustrophedon kontinuierlichen Reihe niederschrieb.«
»In was für einer Reihe, bitte?«
»Schau hier!« Beinteinn zeigte Melkorka seine mit Anmerkungen versehene Kopie der ersten Seite. »Du musst die oberste Zeile hier von links nach rechts lesen. Die Zeile darunter beginnt dann rechts. Das bedeutet, dass du sie |78| von rechts nach links lesen musst. Die dritte Zeile fängt dann wieder links an, und so geht die ganze Geschichte abwechselnd weiter, das ganze Blatt bis ans Ende, etwa wie ein zusammenhängendes langes Zahlenband.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Absolut. Zwar kennt man von einigen wenigen altnordischen Runensteinen auf diese Weise angeordnete Texte. Üblicher war es allerdings, Texte in jeder Zeile von links nach rechts zu schreiben, wie es in indoeuropäischen Schriftsprachen allgemein üblich ist.«
»Und was hat Großvater jetzt auf der ersten Seite geschrieben?«, wollte Melkorka wissen.
»Er widmet das Tagebuch einem Deutschen namens Dr. Bruno Schweizer, der es ihm geschenkt hatte. Als Schweizer im Jahre 1936 hier in Island weilte, beobachtete er, wie Höskuldur Runen auf ein Blatt schrieb, und sprach ihn an. Es stellte sich heraus, dass sie beide großes Interesse an dem alten Germanen-Alphabet hatten. Höskuldur hatte schon einiges über Runen gelesen. Der Gelehrte sandte ihm im darauffolgenden Winter einige Bücher in deutscher Sprache zu Forschungen über Geschichte und Bedeutung der Runen nebst dem Tagebuch zu und forderte ihn auf, darin seine Überlegungen zu isländischen und außerisländischen Runen und Runentexten niederzuschreiben.«
Beinteinn blickte Melkorka aufmerksam an.
»Und wie es weitergeht, das liegt nun in deinen Händen, meine Schöne«, erklärte er. »Ich bin bereit, euch dabei zu helfen, das Tagebuch deines Großvaters zu lesen, sollte das dein Wunsch sein.«
»Ich verlasse mich dabei auf deine Verschwiegenheit«, entgegnete sie.
|79| »Das versteht sich von selbst.«
»Also drucke ich jetzt ein paar Seiten aus«, verkündete Melkorka.
Sie vertieften sich in den Runentext und dechiffrierten in langsamem, aber sicherem Fortschritt die ersten Seiten des Tagebuches. Höskuldur berichtete davon, wie und weswegen er sich 1940 in Deutschland der Waffen-SS angeschlossen hatte. Der sogenannte Winterkrieg zwischen Finnland und dem Sowjetreich endete mit einer Niederlage für die Finnen, worauf er zu seinen Eltern in Norwegen heimkehrte. Dort war er in der Fischverarbeitung tätig, konzentrierte sich aber in seiner Freizeit auf die Runenwissenschaft. Die deutsche Vertretung in Oslo ließ einen Artikel übersetzen, den er in einer nordischen Zeitschrift über isländische Runen verfasst hatte, und sandte ihn an einen SS-Angehörigen namens Karl Maria Wiligut, der als einer der besten Runenspezialisten Himmlers galt. Er hatte unter anderem das Sig-Runenemblem der SS und die Symbole auf dem Totenkopfring entworfen. Als die Deutschen Norwegen besetzten,
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