Runen
Nürnberg. Sie glaubte, einen der Männer auf dem Foto erkannt zu haben: der linke war wahrscheinlich ihr Großvater, Freiherr von Trittenheim, der im Winter 1944–1945 spurlos verschwunden war. Da alle Versuche der Familie, sein Schicksal aufzuklären, erfolglos geblieben waren, sei die Fotografie wie ein Geschenk des Himmels und deshalb seien alle weiteren Informationen zu dem Bild höchst willkommen.
Kári warf einen Blick ins Kinderzimmer und rückte die Bettdecke zurecht, die Darri weggestrampelt hatte. Dann schaltete er den Fernseher im Wohnzimmer ein, um die Zehnuhr-Nachrichten anzusehen. Wieder einmal erfüllte ihn Stolz, als Melkorka lächelnd auf dem Bildschirm erschien. Er kostete den Gedanken bis in die Fingerspitzen aus, dass diese reizende, schöne Frau jede Nacht ihm gehörte und keinem anderen. Manchmal erregte es ihn über alle Maßen, sich Männer im ganzen Land vorzustellen, die sich vor dem Einschlafen mit Melkorkas Bild vor Augen selbst befriedigten.
Die Türglocke störte Kári jäh. Vor sich hin grummelnd ging er sie öffnen. Immer diese Aufdringlichkeit von Vertretern und Missionaren, die alle Welt am späten Abend hemmungslos belästigten.
Ein hochgewachsener Mann in hellbraunem Wintermantel und mit breitkrempigem Hut stand vor der Tür. In der linken Hand hielt er eine schwarze Ledertasche. Mit der Rechten schob er die Brille hoch und strich sich über den graumelierten Kinnbart.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung zu so später Stunde, aber ich wollte keine Minute Zeit verlieren«, sagte der Besucher auf Englisch und nahm den Hut ab.
|70| Kári stand ratlos in der Tür und musterte den Unbekannten. Dessen mächtige, gebogene Nase fiel ihm besonders auf, ebenso wie das wirre graue Haar.
»Ich bin Robert M. Houston«, fuhr der Besucher fort und trat ohne Aufforderung über die Türschwelle. »Ich habe die Abendmaschine aus Kopenhagen gerade noch geschafft.«
»Ja, bitte sehr«, sagte Kári und trat zur Seite.
Als der Professor den Mantel abgelegt und aufgehängt hatte, bat Kári ihn ins Wohnzimmer, wo Melkorka immer noch die Nachrichten im Fernsehen verlas.
»Das ist meine Frau«, erklärte er.
»Glückwunsch«, entgegnete Houston und setzte sich in einen der Sessel. Er legte die Ledertasche auf der massiven Glasplatte des Couchtisches ab.
»Ich bin auf dem Weg in die USA, um einige Vorträge zu halten«, fuhr der Professor fort. »Ich konnte aber nicht anders, als in Island Zwischenstation zu machen und mir dieses hochinteressante Notizbuch Ihrer Frau anzusehen. Wie kam sie dazu?«
Kári erklärte mit wenigen Worten, wie das Notizbuch Melkorka in die Hände geraten war. Er erwähnte, dass ihr Großvater mit neunzig verstorben war. Er verschwieg aber geflissentlich, auf welche Weise Höskuldur Steingrímsson diese Welt verlassen hatte.
Houston öffnete die Ledertasche und holte einige Blätter heraus. Unter anderem befand sich darunter ein Ausdruck der ersten Seite des Notizbuchs, die Melkorka ihm nach dem Begräbnis auf den Westmännerinseln per E-Mail zugesandt hatte.
»Hat Ihre Frau mittlerweile eine Ahnung, was ihr Großvater |71| in sein Tagebuch geschrieben hatte?«, erkundigte sich der Professor.
»Tagebuch?«, wiederholte Kári interessiert. »Demnach haben Sie die Geheimsprache entziffert?«
»Nein, aber es ist mir gelungen, einen interessanten Namen in dem Text aufzufinden.«
»Was für einen Namen?«
»Bruno Schweizer.«
Kári sagte der Name nichts: »Kann mich nicht erinnern, dass ich ihn jemals zuvor gehört oder gelesen hätte.«
»Bruno Schweizer war Sprachwissenschaftler und ist mit Heinrich Himmler in die Schule gegangen«, erklärte Houston. »Er hat viel für Ahnenerbe gearbeitet, unter anderem auch hier in Island.«
»Hier im Land auch?«
»Ja. Doktor Schweizer kam einige Male hierher und plante für Ahnenerbe eine vielköpfige Expedition, die aber nie durchgeführt wurde. Die Deutschen wollten damals unter anderem vorgeschichtliche Tempel ausgraben, in denen die frühen isländischen Siedler die germanischen Gottheiten Óðinn und Þór verehrten, beziehungsweise Wotan und Donar, wie sie im Deutschen heißen. Es erscheint mir wahrscheinlich, dass Höskuldur Steingrímssons und Dr. Schweizers Wege sich zum ersten Mal bei einer der Islandreisen des Doktors kreuzten.«
»Aha?«
»Mir scheint es außerdem wahrscheinlich, dass dieses Zusammentreffen das Leben des jungen Isländers völlig verändert hat. Um das aber mit Gewissheit feststellen zu
Weitere Kostenlose Bücher