Runen
können, muss das Rätsel des Notizbuches gelöst werden. Und daran will ich unbedingt teilhaben dürfen.«
|72| Der Besucher aus Amerika blieb in aller Seelenruhe auf dem Ledersofa im Wohnzimmer sitzen, bis Melkorka nach elf von der Arbeit nach Hause kam.
Sie begrüßte ihn kurz angebunden und reagierte verhalten auf sein Angebot, bei der Entzifferung der Geheimsprache des Notizbuches mitzuhelfen. Houston tat sein Bestes, um sie zu überzeugen, und zeigte sich schmeichelnd und überzeugend zugleich.
»Die Antworten auf die vielen drängenden Fragen zum Lebenslauf Ihres Großvaters, die Sie jetzt zweifellos haben, bekommen Sie ausschließlich, indem Sie sein Tagebuch lesen.«
»Das weiß ich selbst ganz gut«, gab Melkorka zurück. Die Stimme des amerikanischen Professors erschien ihr irgendwie anders als am Telefon.
»Und dabei kann ich Sie unterstützen, das können Sie mir glauben«, unterstrich Houston.
Schließlich stimmte Melkorka zu, ihm die Ausdrucke der Schwarzweißfotos zu zeigen, die Höskuldur in sein Tagebuch geklebt hatte. Am längsten verharrte Houston bei dem Bild, das die Gruppe von Soldaten in SS-Uniform bei irgendeiner Veranstaltung in der freien Natur zeigte.
»Ich würde meinen Hut darauf verwetten, dass das eine Weihe von SS-Angehörigen ist«, sagte er.
»Könnte mein Großvater das Bild aufgenommen haben?«
»Ich glaube eher, dass er einer der frischgebackenen SS-Männer ist, die da vermutlich gerade ihren Treueeid auf Adolf Hitler ablegen«, erklärte Houston. »Aber das steht wahrscheinlich in dem Notizbuch genauer beschrieben.«
Gegen Mitternacht rief Kári ein Taxi, um den unerwarteten |73| und ungebetenen Abendbesucher zu einer Gästeherberge an der Straße Snorrabraut bringen zu lassen, wo er für ein paar Nächte ein Zimmer gemietet hatte.
Mit einem dumpfen Gefühl in der Brust machte sich Melkorka zum Schlafengehen fertig. Obwohl sie klare Antworten auf die vielen bedrängenden Fragen zur Vergangenheit ihres Großvaters wollte, fürchtete sie sich davor, dass die Antworten nicht weniger unangenehm ausfallen könnten.
|75| ZWEITER TEIL
WOLFSFREUND
Lässt seine Augen blitzen wie Soldaten,
so einer ist der Wölfe Freund.
Aus der Lieder-Edda:
Das Lied von Helgi dem Hundingstöter, I, Vers 6.
16
Freitag, 4. Mai
Beinteinn Marteinsson hielt sich mit der linken Hand am Treppengeländer fest und hatte den rechten Arm um Melkorkas Schultern gelegt.
»O wäre ich doch nur noch ein Mal jung«, sagte er. »So würde ich dich auf Händen tragen, anstatt mich auf dich zu stützen wie auf eine Krücke.«
Langsam stiegen sie die Treppe zu ihrem Arbeitszimmer hinauf, das im oberen Stock des Einfamilienhauses lag.
»Nicht so zu verstehen, dass ich eine Krücke nicht zu schätzen wüsste, die zur gleichen Zeit nachgiebig und stark, jung und gut im Fleische stehend ist und nach den Verheißungen des Paradieses duftet«, ergänzte er. Er ließ sich in einem bequemen Stuhl am anderen Ende des weißen Schreibtisches vor einem großen Computerbildschirm nieder und schenkte ihr ein Lächeln.
|76| »Ich habe nie einen Computer auch nur berührt, der Vorsehung sei Dank«, fuhr der Dichter fort und nahm einen Schluck von seinem starken Kaffee. Kári hatte ihnen Kaffee und eine Schale warmes Schmalzgebäck auf einem Tablett heraufgebracht. »Aber dieses Zaubergerät der modernen Zeit ist sicherlich so etwas wie der Füllfederhalter der jungen Dichtergeneration.«
»Ich habe eine Kopie des gesamten Notizbuches auf dieser CD«, erklärte ihm Melkorka. Sie schaltete den Rechner ein und legte die glänzende Scheibe ins Laufwerk. »Hier können wir jede Seite einzeln für sich genauestens untersuchen.«
Sie sah Beinteinn erwartungsvoll an. Am Telefon hatte er ihr mitgeteilt, dass er das Rätsel des Runentextes in der Kladde gelöst habe. Sie konnte eine gewisse Ungeduld in der Stimme nicht unterdrücken, als sie sich erkundigte: »Und? Was ist nun des Rätsels Lösung?«
Der alte Mann ließ sich reichlich Zeit, das Geheimnis zu lüften. »Anfangs verwunderte mich am meisten, dass ich zwar alle verwendeten Runen erkannte, aber dennoch um nichts in der Welt daraus verständliche isländische Wörter zusammensetzen konnte.«
Er nippte wieder an seinem Kaffee. »Obwohl es durch die Doppelpunkte, die die Wortzwischenräume bezeichnen, offensichtlich ist, wo ein neues Wort beginnt und wo es endet, gab es immer mindestens zwei Buchstaben in jedem Wort, die die Wortbildung
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