Runen
Großvaters.«
Melkorka seufzte.
»Was ist denn überhaupt so Besonderes an den Runen?«, fragte sie. »Ist das nicht bloß ein uraltes und unvollkommenes Alphabet?«
»Nun, das Wort Rune an sich bedeutet ›Geheimnis‹. In den Eddaliedern steht, dass die Runen die von geheimnisvoller Kraft erfüllten Zeichen waren, mit denen Óðinn seine Wundertaten vollbrachte. Er lehrte auch andere den Gebrauch der Runen, damit sie damit Gutes oder je nachdem auch Böses vollbringen konnten. Mit den Runen beschaffte sich der Allvater der Götter die Urkraft des Lebens aus der Tiefe der Vergangenheit wieder und verwendete sie zum eigenen Vorteil.«
»Willst du allen Ernstes behaupten, dass die Runen echte Zauberzeichen waren?«
»Nein«, lächelte Njáll. »Nur dass die Menschen des nordischen Heidentums das so glaubten.«
|142| »Haben die Nationalsozialisten deswegen die Runenzeichen verwendet?«
»Ja, Melkorka, in der Tat. Vieles deutet darauf hin, dass Himmler, immerhin einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches, buchstäblich an die magische Macht der Runen glaubte, indem er sie als Schutz- und Siegeszeichen der SS-Verbände eingesetzt hat.«
Njáll war ganz in seinem Element, als er ihr näher erklärte, weswegen die germanischen Runen eine Schlüsselrolle in der Gedankenwelt der Kreise um Himmler einnahmen.
»Schau mal, die Nationalsozialisten waren von der Überlegenheit der ›germanischen Rasse‹ überzeugt, die sie Arier nannten, obwohl das eigentlich nichts weiter als eine künstliche Bezeichnung der vielen Völker ist, die indoeuropäische Sprachen sprechen, und die deswegen mit Rassenherkunft nichts zu tun hat. Aufgrund dieser Überzeugung der Nationalsozialisten sollten die Arier früher die Herren der Welt gewesen sein und die Ahnen einer reinen germanischen Rasse. Die Runen waren früher nicht nur das Alphabet der Arier, so behaupteten sie, sondern eben auch machtvolle Zauberzeichen, wie es in den Eddaliedern steht. Deswegen könne man mit ihnen zurück in die Vergangenheit blicken und sich die Weisheit und Wunderkräfte Óðinns und Þórs aneignen.«
»Das hört sich an wie vollkommener Quatsch.«
»Ja, ja, darauf können wir uns einigen. Vergiss aber nicht, dass vieles von dem, was glaubensfeste Leute heute noch als selbstverständlich und normal ansehen, andere als kompletten Unsinn abtun, und das gilt auch für unseren christlichen Glauben. Man kann sich also die Frage stellen, ob diese Ideen so viel unsinniger sind als beispielsweise |143| die Überzeugung so vieler Christen, dass Maria eine unberührte Jungfrau war, als sie ihren ersten Sohn ohne Zutun eines Mannes gebar, was rein biologisch nicht denkbar ist. Oder dass Jesu Leichnam in den Himmel aufgestiegen ist, was auch gegen alle Naturgesetze ist. Der Glaube übernimmt die Macht, wenn die Realität beiseitegeschoben wird, und die Geschichte der Menschheit hat oft genug bewiesen, dass solcher Glaube uns alle zu Narren machen kann.«
»Aber trotzdem ist das völliger Schwachsinn«, wiederholte Melkorka.
»Und was für einer, da hast du recht. Nur weniges ist gefährlicher in den Händen skrupelloser Politiker als Schwachsinn, an den zu glauben ein ganzes Volk gebracht werden kann. Die Hypothese der sogenannten reinen Arier war eine der Voraussetzungen des furchtbaren Rassismus, der schließlich zur Ausrottung von Millionen Menschen geführt hat, die laut dieser Ideologie keine Arier waren, sondern anderen Rassen zugehörig. Der fanatische Glaube der Nationalsozialisten an so einen fürchterlichen Schwachsinn führte schlussendlich zu den Öfen in Auschwitz.«
|144| 30
Mittwoch, 9. Mai
Melkorka war in der Nachrichtenredaktion des isländischen Fernsehens gut beschäftigt, als kurz vor Mittag Erna Sól Hafsteinsdóttir auf dem Handy anrief.
Als Nachrichtenjournalistin hatte sie in kurzer Zeit gelernt, wie wichtig es war, ihr Netzwerk mit immer neuen Bekanntschaften anzureichern, die ihr möglicherweise von Nutzen sein konnten. Sie legte die Namen, Telefonnummern, Adressen und Berufsbezeichnungen in einer Datenbank ab. Dazu fügte sie noch Anmerkungen bei, in welchen Bereichen sie möglicherweise weiterhelfen konnten. Diese Informationen bewahrte sie nicht nur in ihrem Handy auf, sondern konnte sie auch jederzeit von ihrem Speicherstick abrufen, von dem sie sich niemals trennte. Sie hatte auch die Namen der Beamtin in ihrer Datenbank stehen und sie zwei Mal angerufen, seit ihr die Polizei die schreckliche Nachricht von dem
Weitere Kostenlose Bücher