Runen
kaum einen Halt boten, bis ich schließlich erschöpft am buschbewachsenen Rand der Felsklippen stand. Dort legte ich mich flach hin, schaute aufs Meer hinaus und sah das U-Boot langsam abtauchen, während es den Fjord verließ. Dann wandte ich mich um und spähte ins Land hinein. Ich versuchte, die nächstgelegene Deckung auszumachen; die erste von vielen auf einem langen Weg.
Letztlich musste Höskuldur doch weitaus länger, als er ursprünglich vorgehabt hatte, bei seinem Onkel auf dem abgelegenen Hof Jökuldalsheiði wohnen bleiben, nämlich fast zwei Jahre. Im Frühjahr 1946 fuhr er endlich nach Reykjavík und setzte sich mit einem ranghohen Regierungsvertreter in Verbindung, der während der isländischen Freiheitsbewegung im Hintergrund als bedeutender Strippenzieher tätig gewesen war. Darauf bekam er Arbeit bei der Stadt und trat der Selbständigkeitspartei bei, in der er sich politisch engagierte. Er betätigte sich als Wahlwerber und diente als bewaffnetes Mitglied in einer Reserveeinheit der |136| Polizei, die am 30. März 1949 auf dem Austurvöllur-Platz die Gegner der isländischen NATO-Mitgliedschaft niederknüppelte. Höskuldur verfolgte während der ersten Jahre des Kalten Krieges regelmäßig die Nachrichten zum Verlauf der politischen Entwicklungen in Europa und freute sich, wann immer die Westmächte Josef Stalin die Zähne zeigten:
Den Amerikanern wird endlich das Verhängnis klar, das die Kurzsichtigkeit Roosevelts und seiner bolschewistischen Schwachköpfe über die Welt heraufbeschworen hat. Anstatt am Kampf des großen Führers gegen die bolschewistische Pest teilzunehmen, hat er mit Stalin einen Pakt geschlossen, der Europa dem Kommunismus des Ostblocks anheimfallen lassen wird. Ich kann dennoch nicht anders, als unerschütterlich und eisern daran zu glauben, dass das deutsche Volk wiederauferstehen und seinem Führer alle Ehre machen wird. Deswegen habe ich die Pflicht, die bedeutsame Aufgabe zu vollenden, die mir anbefohlen wurde.
Melkorka schüttelte nur müde den Kopf und schaltete den Rechner aus.
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Dienstag, 8. Mai
Während der nächsten Tage versuchte Melkorka, ihr Leben wieder in die gewohnten Bahnen zu lenken. Höskuldur Steingrímssons Selbstmord und der Mord an dem amerikanischen Professor hatten es auf tragische Weise gehörig durcheinandergewirbelt. Sie ignorierte alles Gerede und alle Gerüchte um sich herum und konzentrierte sich darauf, in ihrem Beruf Höchstleistungen zu bringen.
Trotzdem konnte sie die Gedanken an das Geheimnis ihres Großvaters nicht immer verdrängen. In seinem Bücherzimmer auf Heimaey war sie auf drei Bücher gestoßen, die ihr besonders aufgefallen waren:
Wegweiser der Vorväter
,
Ursprung des Runenliedes
und
Magische Kräfte der Runen
. Die in dunkelbraunes Leder gebundenen Bücher handelten auf die eine oder andere Weise von den altnordischen Runen. Was sie dabei aber am meisten überrascht hatte: Sie waren von Höskuldur verfasst worden.
Sie grübelte darüber nach, weswegen ihr Großvater es niemals auch nur mit einem Wort erwähnt hatte, dass er drei Bücher über Runen geschrieben hatte. Es verwunderte sie auch, dass weder der Name des Verlegers angegeben war noch das Erscheinungsjahr der Bücher.
Einige Tage nachdem Melkorka Professor Njáll Gunnarsson die Bücher geschickt hatte, rief der Historiker an und bat sie, bei Gelegenheit einmal bei ihm vorbeizuschauen.
|138| Njálls Büro in der obersten Etage von Árnagarður, einem der älteren Gebäude des Universitätskomplexes in Reykjavík, war klein und eng und bis auf den letzten Platz mit Büchern, Blätterstapeln, Zeitschriften und Sonderdrucken vollgestopft. Njáll schien sich in der stickigen Enge wohl zu fühlen. Melkorka fühlte sich hier dagegen unbehaglich.
»Dein Großvater war offenbar ein fast fanatischer Anhänger der Denkweise des vergangenen Jahrhunderts«, meinte er und gab ihr die drei Bücher zurück. »Wir geben heutzutage auf solche Weisheiten herzlich wenig.«
»Wie meinst du das, fanatischer Anhänger?«, fragte Melkorka.
»Aus Höskuldurs Büchern geht klar hervor, dass er vollkommen davon überzeugt ist, dass die nordische Mythologie auf wirklichen Ereignissen und Personen beruht«, erklärte Njáll. »Dein Großvater versuchte, die Mythen aus der altnordischen Prophezeiung Völuspá, ›Der Seherin Gesicht‹, und aus anderen Liedern der Edda-Spruchsammlungen mit realen Geschehnissen zu untermauern. Er behauptet sogar, dass darin wirkliche Orte
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