Runen
taumelte zurück.
Der Attentäter stieg über Sexton hinweg, als läge da nur ein toter Baumstamm. Er sprang in raschen Schritten auf Melkorka zu. Sie beschleunigte ihre Schritte, obwohl sie sich nur äußerst unsicher bewegen konnte.
Dann stand sie an der äußersten Felskante über dem Abgrund. Unversehens befiel sie Schwindel. Nur für einen kurzen Moment. Aber genug, um das Gleichgewicht zu verlieren. Sie stürzte rücklings in die Tiefe. Immer wieder schlug sie an der rauen Felswand auf und prallte in weiten Bögen ab.
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Frühmorgens brachte Guðjón das Ermittlungsgericht dazu, einen Beschluss auf Durchsuchung für ein Zweizimmerappartement im ersten Stock eines neuen Mehrfamilienhauses auszustellen. Es stand im Lavafeld von Hafnarfjörður, dem hübschen Ort, der südlich an Reykjavík grenzte. Nicht weit davon ragten bei Straumsvík an der Südwestküste die rot-weiß gestrichenen Türme der Aluminiumhütte des kanadischen Konzerns Rio Tinto Alcan auf.
Eine dreiundzwanzigjährige Studentin der Politikwissenschaften der Universität Islands, Sigríður Jóhanna Angantýsdóttir, war seit anderthalb Jahren als Mieterin der kleinen Wohnung verzeichnet.
Die Überprüfung der in Frage kommenden Aufzeichnungen aus den zahlreichen Überwachungskameras, die rund um die Uhr alle Bewegungen in der Innenstadt von Reykjavík registrierten, zogen sich bis weit in die Nacht hinein. Schließlich wurde Sigríður als Begleiterin von Greta Schneider erkannt. Die fragliche Aufnahme stammte von dem Tag, bevor die Deutsche das Land verlassen hatte.
Guðjón und Erna hatten spät in der Nacht noch an Sigríðurs Tür geklingelt, aber trotz Sturmläutens hatte ihnen niemand geöffnet. Einer der Nachbarn, vom Besuch der Polizei aufgeweckt, erinnerte sich daran, dass er Sigríður |233| kurz vor Mitternacht im Treppenhaus gesehen hatte. Sie war im Begriff wegzugehen. Sie hatte eine Plastiktüte bei sich, die offenbar prallvoll mit Kleidung war.
Dem Hauptkommissar lag nur ihre Personenbeschreibung vor. Sie hatte langes blondes Haar, blaue Augen und ein längliches Gesicht. Dieses Aussehen stimmte in etwa mit dem überein, das die Tagesmutter in Kópavogur beschrieben hatte. Der Anrufer, der für Greta Schneider gesprochen hatte, hatte Kári gegenüber bestätigt, dass sich Darri in ihrem Gewahrsam befand. Dies sowie die auf Sigríður passende Beschreibung und die Tatsache, dass sie mit Greta Schneider gesehen worden war, überzeugten den Bezirksrichter, dass ein hinreichender Verdacht gegeben war, Sigríður könne an der Kindesentführung beteiligt sein.
Eine Spezialeinheit der Polizei befand sich in der Nähe des Mehrfamilienhauses in Spezialfahrzeugen bereits in Einsatzbereitschaft, als Erna und Guðjón mit dem Durchsuchungsbeschluss erschienen. Der Hauptkommissar gab dem Einsatzleiter des Durchsuchungstrupps den Befehl zum Beginn der Aktion. Einige schwer bewaffnete, ganz in Schwarz gekleidete und maskierte Einsatzkräfte stürmten die Treppe hinauf, brachen die Eingangstür zu Sigríðurs Wohnung auf und schwärmten aus in Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer und Bad.
»Hier ist niemand«, verkündete der Einsatzleiter nach kurzer Zeit. Gleich darauf kamen Guðjón, Erna und die weißgekleideten Spurensicherungsbeamten die Treppe hinauf.
»Sucht nach allem, was darauf hinweisen könnte, dass sie sich hier in der Wohnung mit einem kleinen Kind aufgehalten hat«, befahl der Hauptkommissar.
|234| Er selbst sah sich im Wohnzimmer um, das ihn am ehesten an eine der Ausstellungsparzellen eines Ikea-Marktes erinnerte, und verfolgte aufmerksam die Arbeit der Spurensicherung. Sie öffneten Schränke und Kommoden, begutachteten saubere und gebrauchte Wäsche und durchsuchten Papiere, Lehrbücher und CDs.
»Hier gibt es keinen Computer«, stellte Erna fest.
»Eine Universitätsstudentin muss einen Laptop haben«, entgegnete Guðjón.
»Dann hat sie ihn wohl mitgenommen.«
Einer der Spurensicherungsleute kam mit einem Stück Kinderbekleidung in der Hand ins Wohnzimmer. Guðjón nahm einen deutlichen Uringeruch an der hellblauen, flauschigen Latzhose wahr.
»Das habe ich im Badezimmer gefunden«, sagte der Mann.
»Die Hose passt genau zu der Beschreibung, die uns die Tagesmutter von der Überbekleidung des Kleinen gegeben hat«, erklärte Guðjón. »In einen Beutel damit und weitersuchen.«
Kurz darauf rasten Erna und der Hauptkommissar mit einem Affenzahn über die Reykjanesbraut in den Stadtteil Grafarholt, um
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