Runen
ergeben. Sigríður hatte wohl zurückgezogen gelebt und am gesellschaftlichen Leben der Studenten wenig teilgenommen.
Die Polizei fand weder ihren Laptop noch ihr Handy. Sigríður schien außerdem ausschließlich Prepaid-Telefonkarten verwendet zu haben, was es den Spezialisten letztlich unmöglich machte, ihre Telefongespräche rückzuverfolgen.
Als Kári frühmorgens Erna anrief, musste sie ihm eingestehen, dass die Ermittlungen langsam vorankamen, obwohl sie rund um die Uhr daran saßen.
»Ich bin aber davon überzeugt, dass diese Sigríður der Schlüssel zur Lösung des Falles ist«, sagte sie. »Wir haben bereits mit gut dreißig Leuten gesprochen, um die ihr nahestehenden Freunde ausfindig zu machen. Wir bleiben dran.«
|239| 51
Es war bereits Morgen, als Melkorka endlich aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte. Minutenlang wusste sie weder, wo sie sich befand, noch, was ihr zugestoßen war. Zusammengekrümmt lag sie auf der Seite zwischen Bäumen in steil abfallendem Gelände. Büsche und Fichten hatten ihren Sturz von der Felswand vor dem endgültigen Aufprall abgemildert. Durch das völlig verstaubte Sichtfenster des Helms erkannte sie ein Stückchen blauen Himmel.
Dann aber stürzten die Erinnerungen nacheinander wie ein Wasserfall über sie herein: das Stahlseil quer über dem Bergpfad. Der gewaltige Schlag, als Sexton das Motorrad ungebremst ins Stahlseil gejagt hatte. Ihre blutigen Hände. Der unbekannte Angreifer mit Kapuze, der unerwartet im Mondlicht aufgetaucht war. Ihre Verzweiflung, als ihr auf der Felskante plötzlich schwindlig geworden war, und der Sturz rücklings in die Tiefe, den steilen Kehlstein hinunter.
Bei der geringsten Bewegung loderte ihr ganzer Körper vor Schmerzen.
Nacheinander bewegte sie Finger, Zehen und Glieder, um sich zu vergewissern, dass nichts gebrochen war. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte, und das auch noch mit heilen Knochen.
Schließlich zog sie sich hoch und lehnte sich an einen |240| der Bäume. Sie trug noch immer den Schutzhelm und den Rucksack umgeschnallt. Ihr Overall war völlig zerfetzt, besonders an den Knien. Dort hatte sie geblutet, während sie ohnmächtig im Schutz der Bäume gelegen hatte. Die Blutungen hatten aber von selbst aufgehört, und die Wunden waren schon fast eingetrocknet.
Sexton fiel ihr ein, den sie, ohne es zu wollen, in seinem Blut liegend oben auf dem Bergpfad zurückgelassen hatte. Lebte er überhaupt noch?
Melkorka war absolut davon überzeugt, dass Greta Schneider hinter dieser heimtückischen Falle steckte. Sie hatte aber für ihren gefühlten Verdacht natürlich keinerlei Beweise. Wenn der Amerikaner auch ums Leben gekommen war, wäre das bereits der zweite Mord, den die Deutsche verübt hatte, um an das Geheimnis des deutschen U-Bootes zu kommen.
Aber solche Überlegungen mussten warten. Jetzt musste sie ein Lebenszeichen senden und Hilfe holen, um in bewohntes Gebiet zu kommen.
Das Erste war, Susan Houston anzurufen, die hoffentlich noch immer in dem Sommerhaus wartete.
Melkorka erschrak bis ins Mark. Trotz ausgiebiger Suche in den zerrissenen Taschen ihres Overalls konnte sie ihr Handy nirgends finden.
Das Telefon musste ihr beim Sturz aus der Tasche gefallen sein.
Sie suchte ihre Umgebung sorgfältig ab, fand aber nirgends eine Spur ihres Telefons. Schließlich musste sie sich mit der unangenehmen Tatsache abfinden, dass ihr Handy unwiederbringlich verloren war. Sie war von der Umwelt komplett abgeschnitten.
|241| Langsam wurde Melkorka klar, dass ihr in dieser Felsenwüste in den Hängen des Kehlsteins niemand zu Hilfe kommen konnte.
Sie musste sich selbst in bewohntes Gebiet retten.
|242| 52
Gegen zehn Uhr an diesem Morgen betrat Erna das Büro des Hauptkommissars und schwenkte einen vollgekritzelten Notizzettel in der Luft.
»Wir haben einen zweiten vielversprechenden Namen«, verkündete sie eifrig.
»Was für einen Namen?«, fragte Guðjón und richtete sich im Stuhl auf.
»Ein Bekannter von Sigríður hat ausgesagt, dass sie in den letzten Wochen überwiegend mit einer gewissen Ragna Ámundadóttir zusammen war. Das ist die einzige Tochter des Oberstaatsanwaltes Ámundi Hreinsson und seiner Frau Herdís Sigurjónsdóttir. Ragna ist 31, unverheiratet und kinderlos und wohnt noch zu Hause bei ihren Eltern in Garðabær. Also nur ein paar Kilometer südlich von Reykjavík. Sie ist aber im Moment nicht zu Hause.«
»Hast du Informationen über ihr Handy?«
»Wir haben bislang
Weitere Kostenlose Bücher