Runen
Kári die Hose zu zeigen.
»Ja, Darri hatte genau so eine Hose an, als ich ihn gestern früh zur Tagesmutter gebracht hatte«, bestätigte Kári.
»Dann sind wir sicher auf einer heißen Spur«, stellte Guðjón fest. »In den nächsten Stunden werden wir alle verhören, die Sigríður kennen: Eltern, Geschwister und Studienkollegen. Irgendwer kann uns sicher Hinweise geben, damit wir rasch ihr Versteck aufspüren.«
»Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann haben wir |235| den Kleinen wieder«, pflichtete Erna bei. »Darauf kannst du dich verlassen.«
An diesem Morgen veröffentlichten alle Tageszeitungen ein Bild von Darri auf der ersten Seite. Alle Radiosender berichteten ausführlich von der Kindesentführung. Die beiden wichtigsten isländischen Fernsehsender schlugen sich darum, Melkorka und Kári vor die Kamera zu Interviews zu bekommen, um sie als
breaking news
in die Abendnachrichten zu hieven. Guðjón riet Kári allerdings, alle derartigen Ansinnen zunächst abzulehnen. Schon auch deswegen, da es der Polizei bisher trotz der Hilfe von Interpol nicht gelungen war, Kontakt mit Melkorka aufzunehmen.
Als Kári die Bilder seines Sohnes auf den Titelseiten der Tageszeiten sah, überwältigten ihn die Gefühle erneut. Obwohl seine Schwiegermutter abends zuvor noch eilends nach Reykjavík gekommen war, fühlte er sich völlig alleingelassen. Den erbarmungslosen Launen eines wahnsinnigen Schicksals machtlos ausgeliefert.
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Sigríðurs Eltern wohnten in Ísafjörður in Nordwestisland. Angantýr betrieb dort eine kleine Reederei für Fischkutter, seine Frau Katrín arbeitete im Büro des Familienunternehmens.
Frühmorgens trafen sie im Büro des Bezirksamtmanns ein, zornig und beleidigt wegen des Verdachts, den die Polizei gegen ihre Tochter hatte.
»Schlicht und einfach völliger Unsinn zu behaupten, dass unsere Sigga ein kleines Kind entführt haben soll«, empörte sich Angantýr. »Sie ist ein hochintelligentes Mädchen, warmherzig und kinderlieb und hat noch nie etwas verbrochen.«
Erna führte die Vernehmung über eine Konferenzschaltung von Reykjavík aus. Sie war bestrebt, möglichst detaillierte Angaben zu Sigríðurs Freundeskreis herauszubekommen. Ihr wurde aber schnell klar, dass Sigríðurs Eltern ihr dabei nicht sehr viel weiterhelfen konnten. Weder Angantýr noch Katrín konnten ihr auch nur einen Namen von Studienkollegen ihrer Tochter nennen. Sie wussten noch nicht einmal, ob sie in Reykjavík überhaupt einen festen Freund hatte oder sonstige nähere Bekanntschaften unterhielt.
»Wenn die jungen Leute ausziehen, wollen sie auf eigenen Füßen stehen«, entschuldigte sich Katrín. »Sigga |237| ist da nicht anders als andere in ihrem Alter. Sie ruft mich gewöhnlich sonntagabends an.«
»Lag ihr denn irgendetwas ganz besonders am Herzen, als ihr das letzte Mal miteinander telefoniert habt?«
»Nein, das glaub ich nicht.«
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über dies und das halt, wie immer«, antwortete Katrín. »Ich erzähle ihr, was hier im Ort so passiert bei Verwandten und Freunden, also bei Bekannten, meine ich. Sie will immer gerne wissen, was sich hier in den Westfjorden tut.«
»Und was sie selbst beschäftigt, davon hat sie nichts erzählt?«
»Nur dass alles so weit in Ordnung ist und dass sie furchtbar viel zu tun hat im Studium, weil sich gerade die Prüfungen zum Abschluss des Wintersemesters drängen.«
»Nichts Persönlicheres? Nichts von irgendeiner Beziehung oder so etwas?«
»Nein.«
»Du weißt also nicht, ob sie in einer festen Beziehung lebt?«
»Sie hat nie was in der Richtung angedeutet.«
»Könnte sie denn hier in Reykjavík einen Freund haben, ohne dass sie dir was davon sagt?«
»Ja, ich glaub schon. Sigga breitet ihr Privatleben normalerweise nie vor anderen aus.«
»Auch nicht vor ihrer Mutter?«
»Nein. Sie ist da immer sehr zugeknöpft.«
Auch von den Professoren und Dozenten der Universität Islands war nicht mehr zu erfahren, obwohl sie Sigríður bereits seit einigen Semestern unterrichtet hatten. Sie konnten ihren Aufzeichnungen zwar entnehmen, dass |238| sie immer durchschnittlich gute Noten hatte. Von ihren persönlichen Angelegenheiten oder einem Freundeskreis wussten aber auch sie nichts zu berichten.
Guðjón hatte zwei Beamte angewiesen, die nicht wenigen Studenten der Politikwissenschaften anzurufen, die zusammen mit Sigríður dieselben Kurse besucht hatten. Diese Aktion hatte bislang aber noch nichts Handfestes
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