Runen
lehnte sich zurück und schloss die Augen.
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Jack Powell öffnete die Tür des Sommerhauses in Strub und funkelte die beiden Frauen abwechselnd zornig an, sagte aber keinen Ton.
»Ist Alan hier?«, fragte Melkorka.
Der junge Mann trat zur Seite und ließ sie ins Haus.
Im Wohnzimmer waren zwei junge Männer, die Melkorka nicht kannte. Der eine lief nervös herum, wobei er erregt telefonierte. Der andere bearbeitete einen schwarzen Laptop.
»Wo ist er denn?«, wiederholte Melkorka.
Powell öffnete die Tür eines der beiden Schlafzimmer und deutete mit dem Kopf hinein.
Alan Sexton lag auf der Bettdecke und hielt ein Handy in der Hand. Er trug einen Kopfverband und eine Halskrause. Seine dicht behaarte Brust war ebenfalls verbunden.
»Sind Sie schwer verletzt?«, erkundigte sich Melkorka.
»Habe schon Schlimmeres erlebt«, antwortete der Amerikaner kurz angebunden. »Was ist Ihnen passiert?«
Melkorka setzte sich zu seinen Füßen auf die Bettkante und berichtete ihm in groben Zügen von ihren Erlebnissen, seit Sextons Motorrad gegen das Stahlseil geknallt war.
Schweigend hörte Sexton ihr zu. Dann fragte er sie fast eine Dreiviertelstunde lang aus. Er wollte eine Schwachstelle in ihrem Bericht finden, irgendeinen Widerspruch, |269| der anzeigte, dass sie ihn anlog. Melkorka antwortete ehrlich und gewissenhaft.
Dann rief er Susan zu sich und befragte sie nicht minder scharf. Er ließ sich auch von ihr die Ereignisse in allen Details schildern und fragte sie auch wiederholt nach dem Schlüsselbund, den Melkorka in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
»So umsichtige Entführer hab ich ja noch nie erlebt«, bemerkte er spöttisch. »Bei der Ankunft nehmen sie Ihnen den Schlüsselbund ab, nur um ihn zum Abschied wieder in die Tasche zu stecken. Haben Sie eine Ahnung, wer die Männer waren?«
»Nein, gar nicht.«
»Ich glaube aber, dass sie Sie gekannt haben.«
Doch so hart Alan Sexton Susan auch mit seinem Verdacht konfrontierte, es gelang ihm nicht, sie zu verunsichern.
»Meine Leute sind absolut zuverlässig«, sagte er schließlich müde. »Außer ihnen wussten nur Sie allein, wann wir oben auf dem Berg sein würden.«
»Aber ich habe niemandem etwas davon gesagt«, beharrte Susan.
»Der Gegner schien auch gewusst zu haben, wo wir wohnen. Sonst hätten sie Sie nicht schon von hier aus verfolgen können. Wer hat ihnen diese Informationen gegeben?«
»Ich war’s nicht.«
»Sie hatten Gelegenheit dazu, so viel steht fest.«
»Das war nicht meine Schuld, das müssen Sie mir glauben.«
»Wir haben nach allen Seiten äußerste Geheimhaltung befolgt. An Zufälle glaube ich nicht«, fuhr Sexton fort. |270| »Diese Mistkerle konnten uns nur deswegen eine Falle stellen, da ihnen irgendjemand erzählt hat, was wir vorhaben. Nur deswegen konnten sie auch Melkorka und Sie entführen. Irgendjemand hat uns verraten.«
»Aber ich war das nicht«, entgegnete Susan im Brustton der Überzeugung.
»Das finde ich raus, früher oder später, verlassen Sie sich drauf. Und dann werde ich entsprechend Maßnahmen ergreifen«, drohte Sexton.
Er wandte sich wieder an Melkorka: »Sind die Dokumente mittlerweile denn in Island angekommen?«
»Ich hoffe, dass die Sendung mit der Abendmaschine abgegangen ist.«
Sexton rief nach Powell, der umgehend in der Tür erschien.
»Mach den Jet fertig für den Abflug morgen früh um zehn«, befahl er. »Und schick einen der Jungs ein paar Hamburger und Pizza holen. Ich muss dringend etwas zwischen die Zähne kriegen.«
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Guðjón schlief nicht gut in dieser Nacht. Erst gegen zwei kam er ins Bett und versuchte, den Stress des Tages für ein paar Stunden zu verdrängen. Es gelang ihm kaum.
Eine vielköpfige Polizeimannschaft hatte von gestern früh bis Mitternacht nach dem kleinen Jungen gesucht. Einige Dutzend Hinweise waren aus der Bevölkerung eingegangen, die alle Nachrichten über die Kindesentführung aufmerksam verfolgte. Dennoch hatte die Polizei noch nicht einmal einen Verdacht, wo der Junge versteckt sein könnte. Ganz zu schweigen davon, ob er überhaupt noch am Leben war oder nicht.
Der Kriminalhauptkommissar hatte alle Informationen, die über Sigríður Jóhanna Angantýsdóttir und Ragna Ámundadóttir zusammengetragen worden waren, genauestens überprüft. Beide standen sie auf der Schwarzen Liste der
Greiningardeild Ríkislögreglustjóra
, einer Art isländischem Geheimdienst. Die beiden Frauen hatten an Versammlungen einer Vereinigung teilgenommen,
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