Runen
unsere Sprache übersetzt, heißt dieser Spruch:
»Wohl dem, der (die Runen) ritzte: Runenzauberlied: am Brunnen: Gotatýrs: Mímirs Kopf: der mächtige Hammer: Óðinns Auge: Wohl dem, der (dies) kann«
Der mittlere Stein, den ich beim Tempel bei den Externsteinen in Sachsen entdeckte, wurde einige Jahrhunderte später mit einer Runeninschrift in Altnordisch versehen, wahrscheinlich im fünften oder sechsten Jahrhundert. Der Zusammenhang mit dem gotischen Runenstein in Doros ist klar und direkt:
»hailR sa waraita: alu ginarunoR: fimawulatiwaz: a(t)
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iþavili: wabarloka: augo brunas: mimijas hawubiþ: þaruþhamaR: hailR s(a) k(ann)«
In heutiger Sprache:
»Wohl dem, der (die Runen) ritzte: Zauberrunen: von Fimbultýr (einer der Beinamen Óðinns): beim Versammlungsplatz der Götter (Iðavöllur): der Waberlohe: Auge des Brunnens: Mímirs Kopf: der mächtige Hammer: Wohl dem, der (dies) kann«
Der jüngste Runenstein wurde in Jelling auf Jütland beschriftet, vermutlich in den ersten Jahrzehnten des zehnten Jahrhunderts. Darin geht es um den Sendboten der Götter, der zu dieser Zeit das Geheimnis der Kostbarkeiten der Götter hütete:
»goða gætir: galdrastafa: handan hafs: geitscór: at fossbaci: biargi undir: vafrloga: heill siá er risti: heill siá er cann: heill siá er finnr«
Die Sprache dieses Textes ist unserem heutigen Isländisch sehr nahe, wenn auch dichterisch stark verfremdet. Übertragen bedeutet er etwa:
»Ziegenschuh (Grímur) bewacht die Zauberrunen der Götter jenseits des Meeres (also hier in Island), hinter dem Wasserfall unter den Felsen die Waberlohe (wohl eine lohende Flamme): Wohl dem, der (die Runen) ritzte: Wohl dem, der (dies lesen) kann: Wohl dem, der (dies) findet«
Zusammen bilden diese drei Runeninschriften Gotatýrs Runenlied, in dem die Runenmeister uns die Geheimnisse Óðinns und die magischen Dinge weisen, über die er einst verfügte.
Die älteste Runeninschrift erwähnt drei Kostbarkeiten in dem Brunnen: Mímirs Kopf und Óðinns Auge sowie Þórs Hammer, die mächtigste Waffe der nordischen Asen.
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Auf dem Opferstein bei den Externsteinen wird erklärt, dass die Zauberrunen Fimbultýrs – das ist ein anderer Name für Óðinn – und seine drei Kostbarkeiten auf der Ebene »Iðavöllur von der Waberlohe« zu finden seien. Das bedeutet, eine Ebene, die von gewaltigem Feuer geformt wurde. Was kann das anderes sein als ein gigantisches Lavafeld?
Die jüngste Inschrift gibt eine genauere Position dieser Kostbarkeiten an. Dem Runenstein zufolge, den ich im Grabhügel von König Gormur dem Alten in Jelling fand, ist dieses Iðavöllur jenseits des Ozeans zu finden. Und zwar dort, wo ein Ziegenhuf hinter dem Wasserfall unter dem Felsgebirge der Waberlohe die Zauberrunen bewacht. Damit ist zweifellos Grímur Geitskór gemeint, genannt Ziegenhuf-Grímur, der zu Beginn des zehnten Jahrhunderts Island durchstreifte, um einen heiligen Ort für das Althing des neuen Freistaats der Nordmänner zu finden. Es war kein Zufall, dass er jenen heiligen Felsen erwählte, wo die Götter in ihrer Glückseligkeit spielten, um dort künftig das Althing abzuhalten.
Zum Beleg seiner Auslegung zitierte er die Interpretation des schwedischen Universalgelehrten Victor Rydberg zum Weltbild der Eddalieder. Rydberg glaubte, dass der Autor der Jüngeren Edda, Snorri Sturluson, sich bei der Niederschrift durch den Einfluss seiner christlichen Weltsicht in einem fundamentalen Irrtum befand:
Den Eddaliedern zufolge war die Jörmungrund genannte Unterwelt die älteste Welt der nordischen Götter. In deren unterirdischen Räumen befanden sich an den Wurzeln der Weltenesche Yggdrasill die drei Brunnen: Hvergelmir – der Brunnen der Kälte, Urðarbrunnur – der Brunnen des Schicksals und Mímirsbrunnur – der Brunnen der Weisheit. Diese Welt war zu Urzeiten existent, noch bevor die Götter die
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beiden anderen Welten Miðgarður und Ásgarður erschufen. Dort, in der ältesten Welt, ist Anfang und Ende von allem zu finden. Gotatýrs Runenlied übermittelt uns die Botschaft der Vorfahren: die Geheimnisse der Götter sind immer noch unter der Lava und dem See auf der Ebene Þingvellir zu finden. In jenem heiligen Felspalast, wo Ziegenhuf-Grímur die uralten magischen Waffen Óðinns und Þórs bewahrte.
Höskuldur notierte in den folgenden Sommern zahlreiche Besuche im Nationalpark Þingvellir in sein Tagebuch. Während der ersten Jahre zeltete er zwei bis drei Wochen am Stück
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