Runen
Sie stimmte Kári darin durchaus zu. Aberwonach? Und hatte er gefunden, worauf er aus gewesen war?
Melkorka räumte im Schlafzimmer auf und bezog das Bett neu. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wo im Haus ihr Großvater einen Tresor oder ein Schließfach hätte verbergen können. Sie beschloss, die systematische Suche danach im Schlafzimmer zu beginnen. Sie schaute hinter Möbel und Bilder, suchte unter dem Bett und klopfte die Wände ab in der Hoffnung, Anzeichen für einen Hohlraum oder ein Geheimfach zu finden. Eine Dreiviertelstunde später setzte sie die Suche in der Bibliothek fort. Obwohl sie dort weitaus länger suchen musste, war das Ergebnis dasselbe: kein Hinweis auf einen Tresor, auch nicht verborgen in die Wand eingelassen.
Als Melkorka alles abgesucht hatte und ihr nichts mehr einfiel, wo sie im oberen Stock noch nachsehen könnte, zog sie ihre rote Regenbekleidung an, schlüpfte in die gleichfarbigen Stiefel und lief in die Vestmannabraut, um sich etwas zu essen zu holen. Dann suchte sie gründlich im Erdgeschoss, unter anderem in den Schränken und Schubläden der Küche, in der Waschküche und schließlich im Dienstmädchenzimmer. Überall ohne Erfolg.
Nach einiger Zeit musste sie Kári eingestehen, dass sie trotz intensiver Suche nichts Neues im Haus ihres Großvaters gefunden hatte.
»Der Einbrecher kann dir natürlich zuvorgekommen sein«, meinte er nachdenklich.
|308| »Ich muss nur noch auf dem Dachboden nachsehen.«
Sie hatte ihren Großvater einmal in den Speicher begleitet, wie er den Dachboden zu nennen pflegte, und wusste daher, wie sie vorgehen musste.
Melkorka nahm einen massiven Stab mit einem Haken am oberen Ende, der an der Wand gegenüber der Treppe hing. Sie hängte ihn in einen Eisenring ein, der auf halber Höhe der Treppe in die Decke eingelassen war, und zog eine Falltür herunter. Daran waren Treppenstufen befestigt.
Das trübe Licht der Straßenlampen drang durch das kleine dreieckige Fenster am Giebel des Hauses herein. Melkorka streckte sich nach dem Lichtschalter und ließ die Lampen aufflackern, die von der Decke herunterhingen.
Der mit groben Holzbrettern ausgekleidete Speicher war nahezu leer. Sie sah nur einige verschlossene Pappkartons, die gegenüber der Falltür fein säuberlich aufgereiht dastanden.
Melkorka rutschte auf Knien über den staubigen Holzboden und öffnete eine Pappschachtel nach der anderen. Sie fand zumeist nur alte Kinderbekleidung und Spielzeug. Daneben gab es auch einiges an Büroutensilien: ein Hefter, ein Locher, ein Schreibmäppchen, eine Rechenmaschine und eine Lupe. Sie befühlte die kleinen Hosen, Pullover und Schuhe, die Spielzeugautos und Malbücher, die Spielzeugeisenbahn. Plötzlich wich sie unwillkürlich zurück. Ihr Vater musste als Kind diese Kleidung getragen und mit den Autos und dem Zug gespielt haben.
Sie riss sich zusammen, verschloss die Pappschachteln wieder und untersuchte den gesamten Dachboden, ohne den geringsten Hinweis dafür zu finden, dass Höskuldur hier irgendwo ein geheimes Fach angelegt haben könnte.
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Melkorka konnte im Bett ihres Großvaters schlecht einschlafen. Unruhige Gedanken und Grübeleien jagten einander und hielten sie lange wach. Alte Erinnerungen waren darunter, und immer wieder schob sich das Geheimnis dazwischen, das Höskuldur Steingrímsson hinterlassen hatte.
Im Halbschlaf trieben Bilder vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie stammten aus der Zeit, als sie in diesem alten Haus gewohnt hatte. Es waren verschiedene unbedeutende Vorkommnisse und Fetzen von Unterhaltungen, die sie längst vergessen zu haben glaubte. Beispielsweise als Opa sie zum ersten Mal aufgefordert hatte, das traditionelle isländische Mittwinteressen,
Þorramatur
, zu versuchen: fermentierten Haifisch, molkegesäuerte Widderhoden und die Augen aus einem rußig schwarz gesengten Schafskopf. Sie war seiner Aufforderung gefolgt, nur um ihm zu beweisen, wie tapfer sie war. Es schmeckte noch entsetzlicher, als es aussah. Aber sie hatte das abscheuliche Zeug hinuntergewürgt.
Sie hatte ihm auch bei kleineren Tätigkeiten geholfen. Unter anderem hatte sie ihm in den beiden Sommern seine Buchhaltung geführt. An dem alten Sekretär in der Bibliothek waren sie gemeinsam Rechnungen, Quittungen und verschiedene Belege durchgegangen. Höskuldur war flink |310| im Kopfrechnen. Melkorka dagegen wollte lieber die große Rechenmaschine zu Rate ziehen, die Höskuldur auf einem Regal über dem Sekretär aufbewahrte.
»Das
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