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Runen

Runen

Titel: Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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gute Stück ist für normale Berechnungen nicht zu gebrauchen«, hatte ihr Großvater geheimnisvoll gesagt. »Man muss ein kluges Köpfchen sein, um ihr Wissen zu entfesseln. Bist du ein kluges Köpfchen?«
    Mit einem Schlag war Melkorka hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die weißgetünchte Schlafzimmerdecke an. Die tiefe Stimme ihres Großvaters hallte durch ihren Geist: »Ihr Wissen zu entfesseln.«
    Entfesseln! Aus der Fessel lösen! Aus –
Læðingur
lösen!
    Jetzt war an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken. Sie sah die Miene ihres Großvaters deutlich und lebendig vor sich und hörte seine Worte noch einmal, als stünde er mitten im Raum: »Man muss ein kluges Köpfchen sein, um ihr Wissen zu entfesseln. Bist du ein kluges Köpfchen?«
    Diese Erinnerung war ganz gewiss keine Einbildung. Da war sie sich felsenfest sicher. Sie lief in die Bibliothek hinüber. Aber zu ihrer bitteren Enttäuschung stand die Rechenmaschine nicht mehr auf dem Regal.
    Sie überlegte. Dann fiel ihr etwas ein. »Wie doof kann man eigentlich sein«, rief sie. »Ich habe die Maschine ja selbst noch gestern Abend in einem Karton auf dem Speicher gesehen.«
    Wieder zog Melkorka die Treppe mit dem Haken herunter, schaltete die Glühbirnen unter dem Dach ein, kroch auf Knien zu den Pappkartons mit den Büroutensilien ihres Großvaters, fand die Rechenmaschine und trug sie hinunter in die Bibliothek.
    |311| Sie war etwa so groß wie eine dicke ledergebundene Bibel und sah schrecklich altmodisch aus.
    »Wie soll man in diesem Schrottding irgendetwas verstecken können«, murmelte Melkorka. Sie schüttelte das Monstrum heftig.
    Sie versuchte sich an die Zahlen auf dem Zettel zu erinnern, den ihr Aðalsteinn Indriðason an jenem Tag überreicht hatte, an dem die Vergangenheit ihres Großvaters wie ein pechschwarzes Monster aus den Tiefen der Geschichte aufgetaucht war. Sie konnte sie sich aber beim besten Willen nicht mehr vergegenwärtigen.
    Melkorka blickte auf ihre feingearbeitete goldene Armbanduhr und sah, dass sie kurz nach ein Uhr morgens anzeigte. Trotzdem rief sie Kári an.
    »Warst du noch wach?«, fragte sie.
    »Jetzt bin ich’s jedenfalls«, gähnte er.
    »Ich brauche die Zahlen auf dem Zettel.«
    »Hast du was gefunden?«
    »Ich glaub schon, aber ich bin mir nicht ganz sicher.«
    Kári ging in Melkorkas Arbeitszimmer, fand den Umschlag mit dem Zettel und las ihr die Zahlen vor.
    »Was ist es denn?«
    »Mir fiel vorhin wieder ein, dass Opa mal den Ausdruck ›entfesseln‹ in Bezug auf seine alte Rechenmaschine verwendet hatte, die ihm viel bedeutete. Aber vielleicht ist das ja auch nur völliger Unsinn.«
    Sie nahm das Handy in die linke Hand, steckte die alte Rechenmaschine ein und tippte nacheinander die Zahlen ein:
    3 2 4 1 3 6.
    Nichts geschah.
    |312| Melkorka drückte auf die Plustaste, aber nichts rührte sich.
    »Ich werde es noch mal versuchen«, sagte sie enttäuscht.
    Sie tippte die Zahlen noch einmal in derselben Reihenfolge ein. Nach einigem Zögern betätigte sie diesmal die Minustaste.
    Sie hörte ein leises Klicken.
    Vorne hatte sich der Deckel gelöst.
    Als Melkorka das Gehäuse abnahm, lag vor ihr ein brauner Umschlag. Darin war ein kleines, gebundenes Notizbuch.
    »Und? Was hast du gefunden?«, hörte sie Kári aus dem Handy.
    Sie blätterte das Notizbuch durch.
    »Scheint mir ein zweites handgeschriebenes Notizbuch zu sein«, antwortete sie. »Es ist zumindest ebenso eng mit Runen beschriftet wie das erste.«
    »Du bist spitze, mein Schatz!«, rief Kári.
    Melkorka ging wieder ins Schlafzimmer zurück, legte die Kladde unter das weiche Kopfkissen, zog die Decke bis ans Kinn hoch, löschte das Licht auf dem Nachttisch und lächelte zufrieden ins Dunkel.
    Sie fühlte sich unglaublich wohl. Wie immer, wenn sie einen Sieg davongetragen hatte.
    |313| 69
    Freitag, 13. Juli
    Am nächsten Morgen machte sich Melkorka sofort daran, den Runentext zu entziffern, den Höskuldur in das Notizbuch eingetragen hatte.
    Darin schilderte er ausführlich seine Interpretation von Gotatýrs Runenlied:
    Der älteste Runenstein, den ich gefunden habe, befand sich im Tempel von Mangup Kale. Im dritten Jahrhundert hieß der Ort Doros und war die Hauptstadt der Goten. Er war mit Runen in gotischer Sprache beschriftet. Der Runenmeister erzählt darin von den Schätzen Óðinns und Þórs:
    »hails sa izei mêlida: rûnôsaggws: at brunnin: gotatiws: mîmrs haubiþ: þrûþhamar: wôþandis augô: hails sa izei kann«
    In

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