Runen
dort, danach wurden es kürzere Aufenthalte. Er wollte alle größeren Felsspalten und Klüfte zwischen der Schlucht Almannagjá im Westen und Gjábakki im Osten der Ebene untersuchen. Viele davon waren sehr tief. Glasklares, eiskaltes Grundwasser strömte aus tieferen Gesteinsschichten durch die Spalten ins Þingvallavatn. Er hatte allerdings keine Taucherausrüstung, um ihnen auf den Grund zu gehen.
Das änderte sich im Sommer des Jahres 1952, als er auf dem Flughafen Keflavík eine Arbeit annahm. Das US-ame rikanische Militär errichtete dort eine umfangreiche Militärbasis, die länger als ein halbes Jahrhundert betrieben werden sollte:
Traf unerwartet einen alten Reisekameraden auf dem Flughafengelände. Der Freiherr betreibt dort für Dulles und Gehlen eine Fluglinie und bekämpft die Bolschewiken immer noch leidenschaftlich. Er glaubt an die Wiedererstehung des Deutschen Reiches auf den Ruinen des Weltkommunismus. Konnte mir eine neue Froschmannausrüstung beschaffen.
Der Freiherr? Was für ein Freiherr? Freiherr von Trittenheim?
|317| Melkorka überlegte, ob sich in diesem Satz ihres Großvaters der Beweis verbarg, dass der SS-Angehörige Freiherr von Trittenheim heil nach Amerika gelangt war.
In den folgenden Jahren unternahm Höskuldur in den wassergefüllten Spalten des Nationalparks zahlreiche Tauchgänge. Aber wie tief er auch in die Klüfte hinuntergelangte, überall stieß er auf nichts anderes als raue Lavafelsen.
Schließlich musste sich der isländische SS-Mann geschlagen geben. In den letzten Zeilen seines Tagebuches, die er 1959 notierte, besiegelte er seine Kapitulation:
Der Weg zu den altehrwürdigen Brunnen der Götter wird mir auf ewig verschlossen bleiben.
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Montag, 16. Juli
»An diesem sonnigen Sommertag erstrahlt Þingvellir in seiner ganzen Schönheit. Auch hier am Ufer des Þingvallavatn. Eine der tiefsten Felsspalten des Nationalparks taucht genau hier in den See ab«, berichtete Melkorka Steingrímsdóttir und blickte in das dunkle Auge der Fernsehkamera. »Ich stehe exakt auf der geologischen Grenze zwischen Europa und Amerika. Der Abstand zwischen den beiden Kontinenten vergrößert sich hier pro Jahr um einige Zentimeter. Entlang der Plattengrenze zwischen den beiden Kontinenten östlich und westlich von uns ziehen sich die mit eiskaltem Wasser gefüllten Felsklüfte hin, die jeder in Island kennt. Hier oberhalb des Weges liegen die Spalten Flosagjá und Nikulásargjá. Letztere ist den meisten wohl eher als Peningargjá bekannt, als ›Münzenspalte‹, wegen der unzähligen Münzen, die durch das Blau des Wassers vom Grund heraufschimmern. Vor mir liegt die Spalte Silfra. Sie ist die größte und tiefste Felsenkluft im Wassereinzugsgebiet des Þingvellirgebietes. Hobbytaucher aus aller Welt kennen sie, und sie kommen in Scharen nach Island, einzig und allein, um in Silfra zu tauchen. Wir werden uns gleich mit ein paar von ihnen unterhalten und dann in das klarste Wasser der ganzen Welt steigen, das hier in Silfra nach seiner jahrhundertelangen Reise durch die unterirdischen Gesteinsschichten ans Tageslicht kommt.«
|319| »Super«, lobte der Kameramann.
Einige der ausländischen Taucher, die wie jeden Sommer nach Þingvellir gekommen waren, um im klaren Quellwasser zwischen den Kontinenten zu tauchen, waren bereits in die Spalte gesprungen. Andere überprüften noch ihre Ausrüstung. Melkorka sprach mit dreien von ihnen vor der Kamera auf einer Plattform aus Lochblechen, die mitten in der Felsspalte errichtet worden war. Dann folgte sie ihnen die Treppenstufen hinunter, die in das eiskalte Wasser führten. Man konnte weit in die Tiefe sehen.
Sie hatte schon einmal mit ihrem Großvater zusammen einen Tauchgang in Silfra unternommen. Im ersten Sommer, den sie bei ihm verbrachte, hatte Höskuldur ihr das Tauchen beigebracht. Eines Abends zu Frühlingsbeginn war er nach Reykjavík gekommen und hatte die Ausrüstung im Kofferraum seines Wagens mitgebracht. Er nahm sie kurzerhand mit hinaus nach Þingvellir und zeigte ihr eine ganz neue Seite des Nationalparks.
»Silfra ist, wenn man es genau betrachtet, ein gigantisch großer Brunnen oder eine Quelle«, hatte er ihr erklärt. »Die Spalte ist im Durchschnitt zwischen dreißig und vierzig Meter tief. Aber eine der Höhlen, die ich untersucht habe, geht bis in fast sechzig Meter Tiefe. Da unten sind zweifellos viele abgeschlossene Hohlräume, die noch viel weiter in die Tiefe führen. Eigentlich sind es Lavatunnel,
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