Runen
die leergelaufen sind, als der Vulkan seine Tätigkeit einstellte. Die ganze Ebene von Þingvellir besteht aus übereinanderliegenden gewaltigen Lavaschichten. Und weißt du, dass das Quellwasser, das jetzt in sechs bis acht Kilometern Tiefe fließt, in Silfra aufsteigt und nach Jahrhunderten im See endet? Man hat mir gesagt, dass jetzt in einigen |320| Spalten auf Þingvellir Wasser ausfließt, das vor 1550 auf die Isländer herabgeregnet ist, als wir noch ein katholisches Volk waren. Stell dir das mal vor!«
Höskuldur und Melkorka hatten sich auch die acht Meter in die beeindruckende Lavahöhle Gjábakkahellir abgeseilt. Er hatte ihr die Sage vom Bauernmädchen vom Hof Gjábakki erzählt. Sie war in die Höhle hinabgestiegen und tagelang in Lavahöhlen tief unter der Erde umhergeirrt, bis sie endlich mehr als hundert Kilometer entfernt im Westteil der Halbinsel Reykjanes wieder unter freiem Himmel gestanden hatte.
Als der Kameramann Melkorka signalisierte, dass er mit der Auswahl der Aufnahmen zufrieden sei, schwamm sie wieder zu der Treppe, kletterte auf die Plattform, nahm den Lungenautomaten ab und trug die Sauerstoffflasche über den Trampelpfad zum Rand der Spalte, wo sie sich umzog.
»Jetzt könnte ich eine heiße Suppe vertragen«, sagte sie, als sie wieder in trockenen Klamotten vor ihm stand, und warf ihr langes rotes Haar in den Nacken. »Lass uns in den Touristenshop gehen.«
Der Kameramann sah auf seine Armbanduhr.
»Dazu sollte uns noch Zeit bleiben«, stimmte er zu. Er trug die Filmausrüstung vom Lavahügel an den Wegrand.
Im Speisesaal saßen viele Touristen beim Essen. Melkorka nahm sich von der isländischen Fleischsuppe,
kjötsúpa
, die in einem großen Topf an der Theke vor sich hin köchelte.
»Wir müssen noch tanken«, stellte der Kameramann fest und steckte sich die letzte Ladung Pommes in den Mund, die von Hamburgersauce nur so trieften.
»Na dann komm«, antwortete Melkorka und stand auf.
|321| Vor der Tankstelle des Touristenshops auf Þingvellir hatte sich eine ziemliche Warteschlange gebildet. An der vordersten Zapfsäule stand ein neuer Geländewagen Marke Toyota Hilux. Auf seiner Ladefläche standen fünf zusammengebundene große Kunststofftonnen. Ein junger Mann in schwarzem Overall und ebenso schwarzer Baseballkappe stand auf der Ladefläche. Er ließ Treibstoff in eine der Tonnen laufen.
Dann warf er einen flüchtigen Blick auf den Stand des Zählers an der Säule.
Melkorka stockte der Atem.
Was zum Teufel tat Jack Powell hier auf Þingvellir?
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Melkorka rutschte auf den Fahrersitz, während der Kameramann den Wagen auftankte.
»Willst du etwa fahren?«, fragte er irritiert.
»Beeil dich, Mann«, entgegnete sie.
Sie ließ den Motor an und jagte dem Hilux-Pick-up hinterher. Der Amerikaner drohte ihnen zu entwischen. Er hatte mit seinen fünf Tonnen voll Treibstoff bereits den Anstieg am westlichen Rand des Nationalparks bei der Schlucht Almannagjá erreicht.
Als Melkorka auf dem weitläufigen Gelände oberhalb von Þingvellir angekommen war, achtete sie sorgfältig darauf, gebührenden Abstand zu dem Jeep zu halten. Wenn sie dahinterkommen wollte, wohin Jack Powell fuhr, durfte sie sich nicht schon hier verraten.
Bei Kárastaðir bog der Pick-up nach links in eine asphaltierte Straße ein und fuhr in die Richtung des geothermalen Kraftwerks Nesjavellir, das am Südende des Þingvallavatn am Fuße des Vulkans Hengill dampfte.
Melkorka nahm denselben Weg.
»Wo fährst du denn hin?«, grummelte der Kameramann.
»Ich will wissen, wo der da mit seinem Wagen hinfährt«, erwiderte Melkorka.
»Kennst du den Fahrer?«
»Allerdings.«
|323| »Und wenn du ihn einfach fragst? Das ginge doch schneller.«
»Das wird jetzt nicht mehr lang dauern.«
Jack Powell fuhr an der kleinen Ansiedlung Heiðarbæir vorbei nach Süden nach Grafningur. Dann durchquerte er die Schlucht Jórukleif, in der das berüchtigte Trollweib Jóra früher ihr Unwesen getrieben haben soll. Und schließlich bog er auf eine Schotterpiste ein, die zu der kleinen Bucht Hestvík am südwestlichen Ende des Sees führte.
Melkorka blieb auf dem Weg stehen und beobachtete den Pick-up, bis er hinter Hügeln verschwand, die von den ortstypischen niedrigen Birken bewachsen waren.
»Jetzt weißt du ja hoffentlich, wo er hinwollte«, murrte der Kameramann. Er versuchte erst gar nicht, seine schlechte Laune zu verbergen.
Melkorka gab entschlossen Gas. Sie folgte dem Grafningur-Weg weiter nach
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