Runen
dann?«
|338| Jack Powell gab Alan Sexton ein merkwürdiges Zeichen mit den Augen, als wollte er seinem Chef begreiflich machen, dass er ohnehin schon zu viel verraten habe.
»Was dann?«, wiederholte Melkorka.
Sexton zögerte einen Augenblick, dann sagte er genussvoll: »Nach meiner Erfahrung ist immer das am schwierigsten zu finden, was es überhaupt nicht gibt.«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
Melkorka sah Sexton verblüfft an.
»Aber Greta Schneider oder Richthoven existiert doch wohl«, sagte sie bestimmt. »Sie wurde von den Überwachungskameras in Keflavík aufgezeichnet. Sie hat mich besucht. Sie ist mit Ihrem Kollegen Forster ins Gästehaus an der Snorrabraut gegangen, und sie steht auf den Fahndungslisten von Europol und Interpol.«
»Dann lassen Sie uns diese Behauptungen mal etwas genauer betrachten«, erwiderte Sexton ruhig. »Sie haben Besuch von einer Frau bekommen, die sich Greta von Trittenheim-Schneider nannte. Natürlich gibt es Bilder von ihr in der Datenbank des Schengensystems. Forster gegenüber behauptete sie, von dem deutschen Bankier Rudolf von Trittenheim abzustammen, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand. Wir wissen aber heute, dass der Mann keine Kinder hatte. Viele Frauen in Europa und Amerika und sonstwo heißen Greta Schneider, aber keine von ihnen sieht so aus wie die Frau, die Sie besucht hat. Auch das haben wir überprüft. Der Name ist bei Interpol und Europol als einer von vielen Decknamen einer gewissen Greta Richthoven registriert, der Tochter eines Ehepaares, das nachweislich vor etwa zehn Jahren in Leipzig bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Diese Greta |339| aber ist ungefähr zwei Jahre später bei einem Lawinenunglück in den österreichischen Alpen verstorben. Greta Richthoven existiert schlicht und einfach nicht, und deswegen hat sie die Polizei auch bisher nicht gefunden, und wir von Brownwater auch nicht. Dabei sind wir für solche Dinge doch viel besser ausgerüstet als die gesetzestreuen Behörden.«
Eine Weile saß Melkorka wortlos da. Sie starrte in den Nebel und versuchte sich an ihre kurze Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Unbekannten zu erinnern, die sie alle so grob an der Nase herumgeführt hatte.
»Dann ist diese Frau eine Art Spionin oder Agentin wie Sie«, stellte sie nach einigem Schweigen fest. »Eine Berufsbetrügerin und Taschenspielerin.«
»Wir von Brownwater haben sicherlich auch schon Personen geschaffen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Aber in diesem Fall sind wir es nicht gewesen. So etwas können genauso gut die Geheimdienste vieler anderer Länder tun. Und sie tun es auch«, versetzte Sexton.
»Haben Sie die Spur dieser Frau bis ganz zu ihrem Ursprung verfolgen können?«
»Nein. Die Spur ist eiskalt.«
»Also wird es niemals möglich sein, die Mörderin zu finden?«
»Das Wort ›niemals‹ existiert in meinem Wortschatz nicht«, erwiderte Sexton finster.
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Kári war alles andere als begeistert davon, dass Melkorka es sich in den Kopf gesetzt hatte, mit den Brownwater-Leuten im Þingvallavatn zu tauchen. Er hatte versucht, ihr vor Augen zu führen, dass sie nicht den mindesten Anlass dazu hatte, ihnen zu vertrauen. Nach allem, was passiert war.
Zudem hatte der Historiker Njáll Gunnarsson wiederholt, dass die Hinweise in Gotatýrs Runenlied auf eine unterirdische Position der mythologischen Brunnen unter Þingvellir auf einen Irrweg führten. Es gäbe keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte dafür, die Erzählungen in den Liedern der Edda für etwas anderes anzusehen als Dichtung über die heidnischen Mythologien Nordeuropas aus vergangenen Jahrhunderten. Wer etwas anderes behauptete, baute seine Ansichten ausschließlich auf Mutmaßungen und pseudoreligiösen Argumenten auf.
»Ich weiß schon, es heißt seit jeher, dass der Glaube Berge versetzen kann«, sagte Kári zu seiner Frau, bevor sie zu dem Tauchgang aufbrach. »Aber solche ›Mirakel‹ passieren nur in Gedanken von Leuten, die von fanatischer Überzeugung geleitet werden. Und ich weiß doch, dass du an diese seltsamen Theorien nicht glaubst, die deinen Opa gefangen genommen hatten.«
Melkorka war trotzdem bei ihrem Entschluss geblieben: »Ich gebe ja zu, dass das wahrscheinlich nur eine fixe Idee |341| von mir ist. Aber so wie die Dinge jetzt stehen, muss ich den Weg einfach zu Ende gehen.«
Aus Erfahrung wusste Kári genau, wann Widerspruch gegen den eisernen Willen seiner Frau zwecklos war. Deshalb verzichtete er auf
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