Runen
sie im Lichtkegel des Scheinwerfers, dass das Wasser bedeutend trüber geworden war. Es passte alles zusammen: Die wahrscheinlichste Erklärung für den heftigen Stoß, der das Gestein um sie herum erschüttert hatte, war ein Erdbeben.
Melkorka ließ sich bis zur Öffnung des Engpasses hinabsinken. Dort blieb sie horizontal im Wasser liegen.
Da lähmte sie ein neuer Schrecken.
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Erna verließ das Fitnesscenter im Laugardalur nahe beim großen Zeltplatz in Reykjavík und schaltete ihr Handy ein. Acht SMS hatte sie in der letzten Stunde erhalten. Drei davon kamen von Kári Sigurvinsson.
»Ich habe Angst, dass Melkorka etwas zugestoßen ist«, rief er aufgeregt.
»Warum das?«
»Sie hat seit Stunden keinen Anruf mehr entgegengenommen.«
»Ist sie heute Morgen mit nach Þingvellir raus?«
»Ja, ganz in der Früh. Aber sie sollte den Tauchgang mit diesen Verbrechern längst schon beendet haben.«
»Was für Verbrecher?«
»Hast du die Nachrichten über Gerhard von Ramstein nicht mitbekommen?«
»Nein.«
Kári schilderte ihr knapp den Leichenfund in Edmonton.
»Ich werde das im Internet nachlesen«, sagte Erna. »Versuch du unbedingt weiter, Melkorka zu erreichen.«
Eine halbe Stunde später platzte Erna in eine Besprechung hinein, die Guðjón gerade mit einigen seiner Mitarbeiter führte.
»Sag mal, siehst du nicht, dass ich gerade beschäftigt bin?«, fragte er barsch.
|350| »Aber das hier willst du bestimmt wissen«, erwiderte Erna und legte einen Ausdruck der Nachricht über den Leichenfund auf den Tisch.
Guðjón überflog die Meldung und betrachtete die beigefügten Bilder.
»Nach meinen letzten Informationen hat sich der Sohn dieses deutschen Kriegsverbrechers, ein gewisser John Ramstein Melville, hier im Land aufgehalten«, fügte Erna hinzu.
»Was tut er denn hier?«
»Soweit ich weiß, tauchen seine Männer gerade im Þingvallavatn, und Melkorka ist mit von der Partie.«
»Tauchen wonach?«
»Träumereien«, erwiderte Erna und verließ den Raum.
Kári rief weiter im Fünfminutentakt die Mailbox seiner Frau an, die er nach wie vor nicht ans Telefon bekam.
Als Erna sich bei ihm meldete, hatte er bereits Vorkehrungen getroffen, dass Darri bis zum Abend in sicherer Betreuung bei der neuen Tagesmutter blieb. Er wollte gerade die Wohnung verlassen.
»Ich fahre nach Hestvík hinüber«, verkündete er entschlossen.
»Hol mich auf der Polizeistation ab«, erwiderte Erna. »Ich komme mit.«
Auf der Ausfallstraße aus Reykjavík erzählte Erna von ihrem Disput mit Guðjón. Er war von ihrer Idee, das von J. R. Melville gemietete Sommerhaus stürmen zu lassen, alles andere als begeistert gewesen. Er sah keine Veranlassung dazu, den schwerreichen Kanadier in seinem Domizil auf Þingvellir zu belästigen. Auch nicht, als Erna ihm von Káris Sorgen um seine Frau berichtete.
|351| »Wenn Melkorka sich einbildet, mit diesen Leuten im Þingvallavatn tauchen zu müssen, dann ist das ihr Problem«, hatte Guðjón mit gerunzelten Brauen geknurrt. »Soweit ich weiß, ist das Sporttauchen im See nicht strafbar.«
»Aber brauchen sie dazu denn keine Erlaubnis?«, war Ernas Einwand gewesen.
»Brownwater hat alle dazu erforderlichen Genehmigungen von der Verwaltung des Nationalparks eingeholt«, hatte Guðjón geantwortet.
Erna war misstrauisch geblieben: »Das hast du bereits überprüft?«
»Meine Nachforschungen haben klipp und klar ergeben, dass wir keinen Grund haben, uns mit dem Kanadier zu befassen. Es sei denn, es käme eine ausdrückliche Bitte darum von den kanadischen Behörden. Das halte ich aber für äußerst unwahrscheinlich.«
Damit war für Guðjón die Angelegenheit abgehakt gewesen.
»Kriegst du denn keine Schwierigkeiten, wenn du jetzt mit mir da rausfährst?«, erkundigte sich Kári, während sie über die Mosfellsheiði rasten.
»Ich bin ja noch krankgeschrieben. Deshalb kann ich tun und lassen, was ich will«, erklärte Erna.
Als sie den Weg zum Kraftwerk erreicht hatten, gab Kári erst richtig Gas und jagte seinen dunkelblauen Kombi ohne Rücksicht über die staubige Schotterpiste nach Hestvík. Nach rekordverdächtigen achtzehn Minuten waren sie am Ziel.
Der Pick-up, den Melkorka von der Tankstelle auf Þingvellir vor einigen Tagen bis hierher verfolgt hatte, war am |352| Bootsschuppen am Ufer geparkt. Die Jeeps aber, die Erna vor dem großen Sommerhaus bei ihrem und Melkorkas sommernächtlichem Besuch bei J. R. Melville gesehen hatte, waren alle weg.
Kári eilte im
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