Runen
nachsehen, ob die Höhle wirklich so unberührt ist, wie es auf dem Bildschirm aussieht.«
»Ich werde euch in die Höhle begleiten«, sagte Melkorka eifrig. »Etwas anderes kommt gar nicht in Frage.«
Sie war so von dem Gedanken begeistert, in die verborgene Unterwelt von Þingvellir einzutauchen, dass es ihr gar nicht seltsam vorkam, dass Melville ihr sofort und ohne zu widersprechen zustimmte.
|335| 74
Hellgraue Nebelschleier verhüllten die hügelige Landschaft bei Þingvellir in der Morgenstille. Nebel lag auch über dem See, als Melkorka mit ihrem Geländewagen die steile Bergstraße am Kraftwerk Nesjavallavirkjun hinunterfuhr und sich der Bucht Hestvík näherte.
Alan Sexton, Jack Powell und zwei weitere junge Assistenten, die Sexton als Bill und Jake vorstellte, hatten bereits ihre Taucheranzüge angelegt. Sie hatten auch die Schlauchboote schon aufs Wasser geschoben und sie mit Sauerstoffflaschen, Unterwasserscheinwerfern und weiterer Ausrüstung beladen.
Melkorka schlüpfte in aller Eile in ihren Trockentauchanzug und schleppte ihre Ausrüstung vom Kofferraum ihres Wagens in eines der Boote. Sie hatte auch eine zweite Taucherflasche zum Wechseln mitgebracht.
»Sind Sie sicher, dass Sie in dem Nebel die richtige Stelle draußen auf dem Wasser finden?«, fragte sie.
»Ganz sicher«, kam es von Sexton gelassen. »Wir orientieren uns auf dem Wasser immer mit Differential GPS. Da interessiert uns die Sichtweite überhaupt nicht.«
»Na klar!«, erwiderte Melkorka mit kaum unterdrückter Ironie.
Sie nahm im Bug des Schlauchboots Platz, schnallte den Tiefenmesser und den Kompass an je einen Arm, prüfte |336| noch einmal beide Flaschen, die Schläuche und das Mundstück. Dann legte sie Flossen, Bleigürtel, Stirnlampe und Taucherbrille griffbereit.
Nach einer Viertelstunde Fahrt blieben die Boote mitten im Nebel stehen. Nach Melkorkas Einschätzung waren sie nach Norden gefahren. Dort ließ Alan Sexton ein langes Kunststoffseil mit einem schweren Bleigewicht am Ende ins Wasser gleiten. Er zog das Seil straff und befestigte es als Anker an den beiden Booten, die nah beieinander auf der ruhigen Wasseroberfläche lagen. Dann versenkten die vier Leute von Brownwater zwei Stahlgestelle mit einigen daran befestigten Taucherflaschen, Scheinwerfern und verschiedenen anderen Geräten, die Melkorka nicht kannte.
»Als Erstes gehen Jake und Bill runter, um den Höhleneingang noch einmal genau zu überprüfen und starke Scheinwerfer dort anzubringen«, sagte Sexton.
»Ich verstehe.«
»Sie können sie begleiten, wenn Sie wollen.«
»Wann gehen Sie runter?«
»Wenn die beiden mit ihrer Aufgabe fertig und wieder zurück sind.«
Melkorka entschied schnell: »Ich will mit Ihnen runtergehen. Dann kann ich wahrscheinlich weiter in die Höhle hinein, als die beiden das tun.«
Jake und Bill sprangen also allein ins Wasser und versanken in der Tiefe.
Der Nebel über dem Wasser war noch genau so dicht wie am frühen Morgen. Gelegentlich erahnte Melkorka die Tufffelsen von Sandey. Die Vulkaninsel ragte weniger als hundert Meter von ihnen entfernt aus dem Þingvallavatn |337| auf. Sonst war ringsumher wegen des dichten Nebels nichts zu sehen. Die Schlauchboote waren wie winzige Inseln im Nirgendwo.
Melkorka wandte sich an Sexton: »Haben Sie sich von dem Unfall eigentlich wieder ganz erholt?«
Er rümpfte die Nase: »Unfall? Das war kein Unfall.«
»Ich weiß«, sagte Melkorka beschwichtigend. »Ich verstehe nur nicht, weswegen die Polizei dieses deutsche Mordweib nicht schon längst am Schlafittchen gepackt hat.«
»Hat sie das nicht?«
»Nein. Seltsam bei all der Spionagetechnik, die den Behörden heute zur Verfügung steht. Sie verfügen über Millionen Überwachungskameras und raffinierte Technik zur digitalen Spionage aller Art.«
Sexton betrachtete sie eine Weile nachdenklich.
»Was ist am schwierigsten zu finden?«, fragte er schließlich.
»Was meinen Sie?«
»Was kann man niemals finden? Noch nicht einmal mit einer so ausgefuchsten modernen Suchtechnik wie der, über die wir von Brownwater verfügen?«
Melkorka wollte diese vermeintlich dumme Frage patzig beantworten, als ihr klar wurde, dass es dem Amerikaner mit dieser Frage voller Ernst war.
»Was soll ich dazu sagen«, überlegte sie. »Wahrscheinlich ist es am schwierigsten, jemanden zu finden, der ganz natürlich in seine Umgebung hineinpasst, so wie ein Fisch im Wasser.«
»Wir ziehen immer unsere Netze durchs Wasser.«
»Was denn
Weitere Kostenlose Bücher