Runenschild
Stelle.
Die Runenklinge wollte zustoßen und das Blut des jungen Ritters trinken, aber Lancelot riss den Arm im letzten
Moment zurück und schmetterte Thomas stattdessen den
Runenschild vor Brust und Kopf, sodass er nach hinten
und gegen die Wand geschleudert wurde, wo er benommen in die Knie sank. Sofort war Lancelot über ihm und
setzte ihm das Schwert an die Kehle.
Aber er stieß nicht zu.
Er konnte es nicht. Plötzlich war es nicht mehr Thomas,
dem er gegenüberstand, sondern Parzival, vielleicht der
einzige Freund, den er jemals gehabt hatte, und die Todesangst, die er in Thomas’ Augen las, verwandelte sich in
die Mischung aus Bedauern und Schmerz, die vorhin in
Parzivals Blick gewesen war. Die Stimme des Runenschwertes drängte immer gewaltiger. Seine Hand begann
zu zittern und die Schwertspitze ritzte Thomas’ Hals und
ließ ein dünnes Rinnsal hellroten Blutes daran herablaufen.
»Worauf wartest du?«, fragte Thomas. »Stoß zu!«
Alles in ihm wollte es. Die Gier des Elbenschwertes war
übermächtig. Es hatte Blut getrunken wie nie zuvor, seit
Lancelot es das erste Mal in der Hand gehalten hatte, und
doch war sein Durst von der Art, die immer größer wurde,
je mehr er versuchte ihn zu stillen.
»Tu es endlich!«, sagte Thomas. »Bring es zu Ende!«
Statt zuzustoßen trat Lancelot einen halben Schritt zurück und ließ das Schwert sinken. Rings um sie herum
tobte der Kampf mit unerbittlicher Wucht weiter und doch
stand er völlig reglos da und blickte auf den dunkelhaarigen Jungen hinab – wobei ihm erst jetzt auffiel, dass
Thomas nicht sehr viel älter sein konnte als er selbst – und
ließ Schild und auch Schwert schließlich noch weiter sinken.
»Nein«, sagte er. »Geh. Geh und sage Artus, dass ich das
Blut seiner Krieger nicht noch weiter vergießen möchte.«
Thomas blinzelte. Er wirkte völlig fassungslos, aber
auch misstrauisch; vielleicht vermutete er einen Hinterhalt, nur eine Grausamkeit seines Gegners, der ihn in Sicherheit wiegen wollte, nur um ihn danach umso härter
treffen zu können. Schließlich aber stemmte er sich mühsam in die Höhe, wischte sich mit der linken Hand das
Blut vom Hals und wollte die andere nach dem Schwert
ausstrecken, das er fallen gelassen hatte.
Lancelot schüttelte rasch den Kopf. »Nein!«
»Aber das … kann ich nicht«, sagte Thomas verstört.
»Ich kann nicht zurück.«
»Willst du sterben, du Narr?«, fragte Lancelot. Er nahm
eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und schlug
mit dem Schwert zu, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ein dumpfer Aufprall und ein Schrei antworteten
ihm, aber er sah nicht einmal hin, als der Angreifer stürzte.
»Artus hat uns befohlen diese Burg zu nehmen«, sagte
Thomas.
»Auch wenn es euer Leben kostet?«
»Auch wenn es unser Leben kostet.« Thomas’ Blick glitt
kurz und flackernd über die schimmernde Klinge des Runenschwertes. Trotz all der Leben, die er in den letzten
Minuten damit ausgelöscht hatte, blitzte sie, als käme sie
gerade aus der Werkstatt des Schmieds, der sie erschaffen
hatte. Nicht der winzigste Blutstropfen war darauf zu sehen. Thomas schluckte schwer. Vielleicht begann er allmählich zu begreifen, wem er gegenüberstand. Und trotzdem schüttelte er nach einem weiteren Moment nur den
Kopf und sagte noch einmal: »Ich kann nicht zurück.«
Nie zuvor war es Lancelot so schwer gefallen wie jetzt,
zu antworten. »Dann nimm dein Schwert und stirb, du
verdammter Narr«, flüsterte er.
Thomas sah ihn noch einen Moment lang zweifelnd an,
dann aber ließ er sich in die Hocke sinken, ergriff sein
Schwert und richtete sich mit einem trotzigen Nicken wieder auf. Er spreizte die Beine, packte den Schwertgriff mit
beiden Händen und erwartete mit grimmiger Entschlossenheit Lancelots Angriff. Wie oft hatte er einen Ausdruck
wie diesen in den Augen von Männern gesehen, die ihm
entgegentraten?, dachte Lancelot bitter. Und wie oft hatte
er sich gewünscht, dass sie die Waffe sinken ließen und
flohen. Vielleicht war auch das ein Teil des Fluchs, der auf
der Elbenklinge lastete und damit auf ihm. Vielleicht
machte das Schwert dem, dem er gegenüberstand, es unmöglich, sein Leben zu retten. Aber er, Lancelot, war des
Tötens müde. Er würde es kurz machen.
Noch bevor Thomas überhaupt begriff, was er tat, sprang
Lancelot vor, schlug mit einem blitzschnellen Hieb das
Schwert aus der Hand und stieß ihn praktisch gleichzeitig
mit dem Runenschild zu Boden. Thomas fiel, und noch
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