Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
sie jedoch auch nach mehreren Tagen kein Land entdeckten und sich nur unverändert die Weite des Meeres in alle Richtungen erstreckte, nahm Suvare selbst den Platz hinter dem Steuerrad ein.
Die Anspannung der Mannschaft war nun deutlich an Deck spürbar. Einmal musste sie sogar dazwischen gehen, als Calach und der sonst so friedliche Torbin miteinander in Streit gerieten und sich um ein Haar geprügelt hätten. Am ruhigsten jedoch verhielt sich ausgerechnet Daniro. Selbst Teras musste zugeben, dass sich der junge Mann von seinem Zusammenbruch an den Weißen Klippen wieder erholt hatte und zu einem Mitglied der Mannschaft geworden war, auf das man gerade in dieser schwierigen Zeit zählen konnte.
Im Krähennest war ständig einer damit beschäftigt, bis zu seiner Ablösung Wache zu stehen und nach Land Ausschau zu halten. Aufgrund der Kälte war es eine undankbare Aufgabe, und jeder kletterte nur widerwillig den Mast hinauf, weshalb Suvare dafür sorgte, dass die Wachen häufig wechselten. Aber auch sie konnten nichts anderes entdecken als Meer und Himmel.
Am dritten Tag ihrer Reise in den äußersten Norden fing es so stark zu schneien an, dass es Suvare schwerfiel, sich nach dem Stand der Sonne zu richten. Mit halb zusammengekniffenen Augen starrte sie in das wirbelnde Treiben jenseits der Reling ihrer Tjalk, deren dunkles Deck das Einzige war, das inmitten dieses Auf und Ab von Wind, Wellen und Schnee Sicherheit und einen festen Halt bot. Der matt durch die Wolken schimmernde helle Ball hing schwerfällig am Nachmittagshimmel, und selbst das Tageslicht wirkte müde und verbraucht.
Niemand von ihnen vermochte zu sagen, wann genau die Zeit begonnen hatte, sich zu dehnen. Aber im Laufe ihrer Fahrt durch das ständige Schneetreiben fiel Suvare auf, dass die Sonne nicht mehr unterging. Irgendwann war sie hinter der dichten grauen Wolkendecke verschwunden, die den Horizont in alle Richtungen ausfüllte. Seitdem herrschte ein unaufhörliches Dämmerlicht, das aber auch nicht in eine abendliche Dunkelheit mündete, sondern weiter und weiter anhielt, selbst als sich alle an Bord sicher waren, dass es längst nach Mitternacht sein musste.
»Das ist nicht normal«, sagte Calach mit einer Stimme, die heiser war vor verhaltener Anspannung. Er stellte einen Eimer ab, dessen Inhalt aus Essensresten er eben über Bord gekippt hatte, und kratzte seinen Hinterkopf blutig ohne es zu merken, wie so oft in der letzten Zeit. Seine Blicke suchten den Himmel ab, als hoffte er, die Nacht würde endlich herabfallen wie ein schwarzer Vorhang auf eine Schauspielbühne. »Wir hätten uns niemals darauf einlassen sollen. Der Rand der Welt – verdammt, was ist, wenn die alten Geschichten wahr sind?«
»Was meint er?« Neria stand mit Suvare, die das Steuerrad in ihren Händen hielt, am Heck der Tjalk und blickte zu dem besorgt dreinblickenden Schiffskoch an Steuerbord hinüber.
»Er spinnt Seemannsgarn.« Suvare winkte ab, doch sie sah besorgt aus.
»Nun sag schon«, forderte die Voronfrau sie auf.
Suvare seufzte. »Es heißt, dass das Meer am Rand der Welt in einen riesigen Abgrund stürzt. Niemand weiß, wie tief dieser Abgrund ist, ebenso wie keiner sagen kann, was hinter diesem Abgrund liegt. Manche glauben, die Welt wäre dort zu Ende, andere behaupten, dort würde das Reich der Sterne beginnen, der dunkle Weltraum.«
Teras und Daniro waren zu ihnen getreten, auch Torbin kam heran. Die Männer standen mit unruhigen Mienen dicht um Suvare und Neria herum. In den Augen der Voronfrau wirkten sie ein wenig wie Kinder, die Angst vor einer unheimlichen Geschichte haben, aber dennoch nicht anders können, als sie in allen Einzelheiten hören zu wollen. Die Macht von Geschichten: Margons alter Freund Callis, die Stimme Runlands, hätte sie sofort wiedererkannt.
»Das ... das ist doch nur Aberglaube« Torbin fröstelte. Er hörte sich alles andere als überzeugt von sich an. »Dummes Geschwätz. Wer ist denn jemals aus diesen Gegenden zurückgekehrt, um uns davon berichten zu können?«
»Und doch ...«, überlegte Suvare. »Der Abyss, von dem die Dunkelelfen erzählt haben, und in dessen Tiefe die Schicksalsfestung verborgen sein soll, hört sich durchaus nach diesem Abgrund aus den alten Seemannsgeschichten an.«
»Gesetzt den Fall, wir gelangen tatsächlich zum Rand der Welt«, sagte Calach. »Wie soll Neria dann zu der Festung kommen?« Herausfordernd starrte er seinen Khor an.
»Ich kann es dir nicht sagen«, erwiderte Suvare,
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