Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Aufgabe zurückließen. Beinahe geräuschlos entfernte sich das Beiboot von der Tjalk, während sich der Blick zwischen Suvare und Daniro gleich einem sich dehnenden Band in die Länge zog. Sie sahen sich an, bis der junge Mann den roten Haarschopf seines früheren Khors nicht mehr erkennen konnte. Erst dann drehte er sich um.
Sie hatte kein Wort mit ihm gewechselt, aber das war auch nicht nötig gewesen. Ihre brennenden Augen hatten ihm alles gesagt, was er wissen musste. Die Verantwortung für Nerias Leben lag nun bei ihm. Er musste zu Ende bringen, was Suvare nicht mehr konnte, und die Tjalk wie angekündigt über den Rand der Welt steuern.
Er atmete tief durch.
Hatte er es nicht schon damals geahnt, dass es einmal so enden würde, an jenem regnerischen Frühlingsabend, als er sich nach Jahren an Land endlich dazu entschlossen hatte, wieder zur See zu fahren? Die See besaß eine kalte Hand, wie auch der Tod, und heute würde sie nach ihm greifen. Er war ihr schon einmal knapp entkommen, und so etwas schätzte sie nicht, eifersüchtige Liebste, die sie für jene war, die ihr gehörten und nicht mehr ohne dem Auf und Ab ihrer Wellen leben konnten. Aber die Zeit des Weglaufens war vorbei. Wenn er schon ins Totenboot steigen musste, dann ohne Furcht. Als er hochsah, stand Neria vor ihm.
»Lass es uns angehen«, sagte sie.
Er nickte. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich niemals zu diesem Schritt entschlossen.«
Sie zog eine Augenbraue hoch, erwiderte aber nichts.
»Für den Fall, dass ich nicht überlebe«, fuhr er fort, »möchte ich dich um eines bitten. Gib nicht auf. Niemals. Egal, was in dieser Schicksalsfestung geschieht, wenn du sie tatsächlich findest. Sorge dafür, dass ich nicht umsonst gestorben bin. Das ist alles, was ich mir noch wünsche.«
Neria sah ihn weiter ruhig an. Dann, so unvermittelt, dass er zusammenzuckte, trat sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn kurz und fest. Ein Teil von ihr war darüber mindestens so überrascht wie Daniro selbst.
Sie löste sich wieder von ihm. »Bringen wir das Schiff auf Kurs, bevor wir es uns am Ende noch anders überlegen.«
Daniro schenkte ihr ein bitteres Lächeln. Er ging zum Steuerrad. »Setz das Vorsegel«, rief er ihr über die Schulter hinweg zu. »Das wird reichen, um uns in die Strömung zu bringen. Weißt du, was du dazu machen musst?«
»Keine Sorge, ich habe deinen Kameraden lange genug dabei zugesehen. Steuer du einfach das Schiff auf die Grenze zu, den Rest übernehme ich.«
Daniro ergriff das Steuerrad. Als sich das Vorsegel erneut aufblähte, drehte er die Tjalk erneut in den Wind. Schnell gewann sie an Fahrt.
Das Rauschen des Wasserfalls vor ihnen nahm zu, ein dumpfes Donnern, das bedrohlich in ihren Ohren hallte. Neria rannte über das verlassene Deck zurück ans Heck und stellte sich an Daniros Seite. Der Wind in ihrem Rücken wehte ihr dichte schwarze Haarsträhnen ins Gesicht. Hastig strich sie diese zurück, doch sie wehten ihr sofort wieder um die Augen und störten ihre Sicht, als wollten sie ihr raten, sich nicht anzusehen, worauf sie zuhielten.
Vor ihnen näherte sich die Grenze. Dicht über dem Horizont leuchteten die sieben Sterne der Krone des Nordens. Für Neria sah sie aus wie die untere Hälfte eines zerbrochenen Rings. Gleich würde sie herausfinden, ob sie völlig verrückt gewesen war, den Rat der Dunkelelfen zu befolgen, oder ob ihre Bestimmung wirklich darin bestand, die Schicksalsfestung zu finden. Denn darauf lief es wohl hinaus – sich über den Rand der Welt zu stürzen, in der Hoffnung, die Träumende würde ihre Entschlossenheit anerkennen und sie retten.
Neben ihr bewegte Daniro leise die Lippen, als spräche er ein Gebet. Seine Hände hielten das Steuerrad so fest umklammert, dass die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Ein Bild blitzte vor Nerias inneren Auge auf, ein kurzes Licht, das aus dem tiefen Brunnen ihres Gedächtnisses zu ihr heraufschien, in den alle Erinnerungen aus ihren Zeiten als Wölfin hineinfielen. Es zeigte den jungen Mann an ihrer Seite, wie er die Wut und die Verwirrung des riesigen Tieres an Bord auf sich gelenkt hatte, um zu verhindern, dass es das Blut seiner Kameraden vergoss.
»Komm schon. Hier bin ich!«
Den Mut, den er damals bewiesen hatte, hätte sie ihm niemals zugetraut. Sein Schrei aus jener Vollmondnacht hallte durch ihren Geist, während er neben ihr stand und seine letzten unhörbaren Worte an sie richtete, die sie sich um Hilfe zu bitten
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