Runlandsaga - Feuer im Norden
Scheiterhaufen. Mit einem lauten, schmatzenden Geräusch fing das ölgetränkte Holz Feuer. Die Umstehenden traten mehrere Schritte zurück, um etwas Abstand zu den Flammen zu schaffen, die binnen weniger Augenblicke mehrere Fuß hochschlugen.
Die Hitze, die vom brennenden Holzstoß ausging, war enorm. Schnell hatten die eingehüllten Leichen Feuer gefangen. Der zunächst helle Rauch, der von den brennenden, trockenen Ästen herrührte, nahm eine schmutzige Farbe an. Enris war mehr als erleichtert, dass der größte Teil des Gestanks, der nun von dem Scheiterhaufen aufstieg, mit dem vom Land her wehenden Wind auf die offene See hinausgetragen wurde. Er erinnerte sich an das schmerzverzerrte Gesicht des Wachmanns in der umstellten Ratshalle und an den Geruch brennenden Fleisches. Sein Magen zog sich zusammen. Die Zähne fest zusammengebissen und den Kopf in den Nacken gelegt, wandte er sich ab. Es war ihm egal, ob jemand der anderen ihn für überempfindlich hielt.
Als er wieder geradeaus blickte, sah er, wie Arcad mit Tolvane sprach. Der Ratsherr nickte, dann hob er seine Arme.
»Es gibt noch eine Sache mehr, die zu tun ist! Der Sohn der beiden Toten, die wir heute den Händen des Dunklen Königs anvertraut haben, besitzt keine weiteren Verwandten, und er ist fern von seiner Heimat. Nach den Bräuchen unseres Landes kann Themet erwarten, dass einer von uns ihn hier, bei der Einäscherung seiner Eltern, als Kind in seine Familie aufnimmt.«
Enris‘ Gesicht verriet Verwunderung. Dieser Brauch war ihm, der in Haldor aufgewachsen war, unbekannt. In Tyrzar wurden Waisen dem Tempel des Sommerkönigs überantwortet. Selbst Themet, der beim Anzünden des Scheiterhaufens ein völlig ausdrucksloses Gesicht gezeigt hatte, starrte den Ratsherrn überrascht an. Anscheinend hatte er selbst bisher kaum über die Folgen des Todes seiner Eltern nachgedacht.
»Ich frage also«, drang Tolvanes angestrengte Stimme über das laute Prasseln des Feuers hinweg, »wie es Sitte ist: Wer von den hier anwesenden Männern und Frauen ist bereit, dem Jungen ein Zuhause zu bieten, ihn anzunehmen wie einen Sohn und dies vor dem brennenden Scheiterhaufen zu bezeugen?«
Bis auf die Geräusche, die von dem Feuer ausgingen, herrschte Stille. Einzelne Blicke wanderten umher, aber niemand antwortete. Enris sah zu Arcad hinüber. Der Elf nickte ihm kaum merklich zu, und mit einem Mal wusste er, was er tun musste. Er hatte es schon die letzten Stunden über gewusst. Arcads schwaches Nicken war nur wie eine letzte Bestätigung von außen gewesen, als hätte der Endar die Gedanken hinter der Stirn des jungen Mannes gelesen.
Enris trat einen Schritt vor. Die Hitze des Scheiterhaufens schlug ihm ins Gesicht. »Ich bin bereit«, sagte er laut.
Alle Blicke ruhten nun auf ihm. Er bemerkte es kaum, weil er nur den Jungen ansah, der mit offenem Mund zurückstarrte.
»Ich bezeuge vor den beiden Toten, die wir heute dem Feuer, dem Meer und dem Dunklen König übergeben, dass ich Themet hier wie einen eigenen Sohn in meine Familie aufnehmen und für ihn sorgen will.«
»Nein!« Themet hatte wütend aufgeschrien. Sein Gesicht war nun bewegter als in dem Moment, in dem er den Holzstoß entzündet hatte. »Ich will das nicht! Und schon gar nicht von dir.« Tränen liefen über seine Wangen.
»Es ist nicht deine Angelegenheit, Enris‘ Erklärung abzulehnen«, widersprach Tolvane mit ruhiger Stimme. »Du bist noch ein Kind. Wenn er dich als Verwandten anerkennen will, dann steht es ihm frei, dies zu tun.«
Themet schien ihm gar nicht zuzuhören.
»Lass mich in Ruhe, lasst mich alle in Ruhe! Ich will nichts von euch, von keinem!«
Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte den Strand entlang, in die Richtung, in die zuvor auch Larcaan losgestapft war. Doch nach wenigen Schritten setzte er sich in den nassen Sand, mit den dem Rücken zu ihnen, und legte den Kopf in die Hände.
Die Flammen des Scheiterhaufens schlugen noch immer hoch in die Luft. Sie malten ein fiebriges, gelbes Licht auf Tolvanes Gesicht, als er sich an Enris wandte.
»Bist du dir völlig im Klaren, was du gerade getan hast? Ein Schwur am Scheiterhaufen von Themets Eltern, vor allen Anwesenden, ist so bindend, als hättest du ihn im Angesicht Cyrandiths selbst geleistet! Du bist nun für den Jungen verantwortlich, egal ob er es will, und auch egal, ob du dieser Verantwortung irgendwann einmal überdrüssig werden solltest.«
»Ich bin mir dessen genau bewusst«, sagte Enris mit gepresster
Weitere Kostenlose Bücher