Runlandsaga - Feuer im Norden
Stimme. Es war eine Lüge, und er wusste es ebenso, wie es Tolvane wusste. Niemand in seiner Lage konnte wirklich überschauen, worauf er sich einließ, wenn er ein Kind annahm. Noch vor kurzem hatte es in seinem Leben niemand anderen gegeben als ihn selbst. Seine Familie lebte weit entfernt von Felgar und war aus seinem Blickfeld gerückt. Dann hatte das Schicksal ihn mit Themet zusammengeführt. Er hatte den Jungen aus der Gewalt der Männer gerettet, die Arcad verfolgt hatten. Seit den letzten beiden Tagen hatte sein Überleben immer wieder in den Händen anderer gelegen, in denen Margons und Arcads, und auch er selbst hatte die Verantwortung für das Leben anderer getragen, für Mirka und erneut für Themet.
Er hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung, worauf er sich eben eingelassen hatte, aber nach allem, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hatte, war er nicht in der Lage gewesen, still zu bleiben, als Tolvane seine Frage gestellt hatte.
Der Ratsherr nickte langsam. »Dann soll es so sein, wie wir alle es gehört haben und es ebenfalls bezeugen können. Für das Gesetz dieses Landes ist der Junge von diesem Moment an ein Teil deiner Familie.«
Enris sah Schweiß auf der blassen Stirn des alten Mannes. Er schwankte leicht vor und zurück.
Sofort war Morovyr heran und stützte ihn, so schnell, dass Enris nicht sagen konnte, wo der Hausverwalter zuvor gestanden hatte.
»Es wäre besser, wenn Ihr Euch zum Boot begeben würdet«, sagte er. »Ihr habt schon viel zu lange gestanden. Denkt bitte daran, dass Ihr noch immer geschwächt von Eurer Krankheit seid.«
»Es geht schon«, erwiderte Tolvane. »Ich muss mich nur ein wenig hinsetzen.« Vorsichtig ließ er sich etwas entfernt von dem brennenden Scheiterhaufen im Sand nieder. Auch einige der anderen setzten sich.
Enris blieb stehen und Mirka tauchte neben ihm auf. Er hatte sich während des Einäscherungsrituals fast die ganze Zeit über in Suvares Nähe aufgehalten. Neugierig musterte er den jungen Mann, bevor er eine Frage stellte, die ihm seit einiger Zeit auf den Lippen brannte.
»Sag mal, bist du jetzt wirklich so etwas wie Themets neuer Vater?«, wollte er wissen.
Enris lächelte. »So etwas ähnliches. Ay, nach dem Gesetz dieses Landes ist er nun ein Teil meiner Familie. Der Eid vor seinen toten Eltern ist bindend.«
»Ich find es ganz schön dumm von ihm, dass er sich so aufgeführt hat, als du diesen Schwur geleistet hast. Ich meine, du würdest ihm doch nicht dauernd was verbieten und ihn schlagen, oder?«
»Es ist einfach alles viel zu viel für Themet«, meinte Enris. »Seine Eltern sind noch nicht einen Tag tot. Er ist wütend, weil sie gestorben sind, als sie mir helfen wollten. Er wird sich wieder beruhigen.«
»Ich hoffe, dass meine Mutter noch am Leben ist«, murmelte Mirka mit gesenktem Kopf. »Aber wenn ... wenn sie es nicht mehr ist«, er stockte und fuhr dann schnell und etwas lauter fort: »würdest du mich dann auch in deine Familie aufnehmen?«
Enris legte ihm seinen Arm um die Schulter. »Jetzt hör mir mal gut zu. Es sind bestimmt eine Menge Leute lebendig aus der Stadt herausgekommen. Ich hab selbst gesehen, wie viele die Straße nach Osten eingeschlagen haben. Mit nur ein wenig Glück ist Helja schon auf dem Weg nach Menelon. Ich verspreche dir, ich werde alles tun, was ich kann, damit ihr beide euch wiederfindet!«
Plötzlich vergrub Mirka seinen Kopf in Enris‘ Seite. Ein Schluchzen schüttelte seinen Körper.
»Sie fehlt mir!«, hörte er ihn mit erstickter Stimme murmeln. »Sie fehlt mir so!«
Stumm strich Enris ihm über seine feuerroten Haare. Auch der Junge sprach nicht weiter. Nach einigen Momenten löste sich Mirka immer noch schweigend von ihm und lief mit weiten Schritten über den Strand, dass der Sand zu seinen Füßen hochspritzte.
Enris ging allein an der Wasserlinie entlang und sah zu, wie der Holzstoß allmählich in sich zusammenfiel und die Flammen herunterbrannten. Die hereinrollende Flut umspülte die schwelenden Überreste des Scheiterhaufens, als hätte sie nur darauf gewartet, sie mit sich in das Grau der offenen See zu nehmen.
Arcad trat neben ihn. Auch er betrachtete den niedergebrannten Scheiterhaufen, der allmählich vom Meer fortgetragen wurde.
»Die Rituale, mit denen ihr Temari von den Euren Abschied nehmt, sind denen meines Volkes gar nicht unähnlich«, sagte er ruhig, als hätte er lange über etwas nachgedacht, das er nun mitteilen wollte. »Auch wir verehren das Leben,
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