Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Runlandsaga - Feuer im Norden

Runlandsaga - Feuer im Norden

Titel: Runlandsaga - Feuer im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Gates
Vom Netzwerk:
diesmal ihr Nachtlager auf einer Lichtung aufschlagen zu können. Trotz ihrer müden Beine ging sie schneller. Als sie die letzte Linie der Bäume erreicht hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass hinter diesen Bäumen keine Lichtung lag.
    Vor ihr dehnte sich das niedrig wachsende Gras der Hochebene von Felgar aus. Über der offenen Landschaft hing ein Himmel, dessen Weite Neria den Atem raubte. Einzelne Baumgruppen, die der stetig wehende Wind so gebückt wie am Stock gehende Greise hatte wachsen lassen, waren die einzigen Punkte, an denen ihr Blick einen Halt fand. Alles andere schien vor den Augen der jungen Frau zu einem Meer aus Gras und kleinen Büschen zu verschwimmen, das sich so weit in die Ferne ausdehnte wie der gewaltige, dunkelblaue Himmel. Die Sonne war bereits gänzlich hinter dem Horizont verschwunden. Nur noch einige rötliche Wolkenstreifen verrieten, an welcher Stelle sie untergegangen war.
    Neria fühlte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal am helllichten Tag eine Ratte aus dem Vorratsgebäude ihres Dorfes gejagt hatte, ein hässliches, hungrig aussehendes Tier mit struppigem Fell und abgeknicktem Schwanz. Eine Anzahl Kinder war auf dem Platz vor der Hütte herumgelaufen. Als sie gesehen hatten, wie die Ratte aus dem Dunkel des Eingangs herausgeschossen kam, hatten sie das Tier von allen Seiten umringt, sodass ihm eine Flucht unmöglich gemacht worden war. Neria erinnerte sich an die wilden Sätze der Ratte, daran, wie sie mit Zickzacksprüngen über den leeren Platz geeilt war, nur um nach wenigen Augenblicken erneut den Weg versperrt zu bekommen. Schließlich hatte sie reglos auf dem Boden gekauert, mit heftigen Bewegungen ihres Bauches hektisch ein- und ausatmend, jeder Deckung beraubt und sich in ihr Schicksal ergebend, das sie kurz darauf durch einen gut gezielten Steinwurf ereilte.
    In diesem Augenblick, am Rande des Roten Waldes, während das letzte Licht des Tages der anbrechenden Dunkelheit wich, fühlte sich Neria wie jene Ratte – jeder Deckung ihrer vertrauten Umgebung beraubt, völlig überwältigt von der Weite, die sich vor ihr ausbreitete wie das Meer in ihren Träumen, unfähig, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Der Gedanke kam ihr, im Schutz der letzten Ausläufer des Waldes ein Nachtlager zu errichten und erst am nächsten Morgen in die Ebene vorzudringen. Aber sie schob ihn sofort beiseite. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, wie viel schwerer es ihr fallen würde, weiterzugehen, wenn sie jetzt in der Sicherheit der sie umgebenden Bäume bleiben würde. Außerdem drängte es sie vorwärts. Jenseits dieser Ebene würde sie die anderen finden. Sie musste es über sich bringen, den ersten Schritt aus dem Wald herauszuwagen! Aber sie rührte sich nicht. Nur ihr Herz hämmerte weiter wie wild, dem Anblick des freien Himmels ausgesetzt, der von keiner Baumkrone unterbrochen wurde.
    Ihr Blick fiel auf die Sichel des abnehmenden Mondes. Er war offensichtlich schon seit einer Weile aufgegangen. Wahrscheinlich hatte er sich bereits gezeigt, als die Sonne noch im Versinken begriffen war, aber Neria hatte ihn erst jetzt entdeckt. Wie er so über der unbekannten Ebene hing, weiß und leuchtend vor dem Dunkel der einbrechenden Nacht, erschien es ihr, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Dennoch war er ihr gleichzeitig so vertraut wie noch nie.
    Allmählich begann sich ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. Der Anblick des Mondes war wie ein Versprechen. Die Hochebene vor ihr war etwas Neues und Unbekanntes, aber über ihr würden dieselben Sterne leuchten wie am Himmel über dem Wald. Bald würde die leuchtende Sichel dort oben wieder zugenommen haben, bald würde die junge Frau, die gerade zu ihr hinaufblickte, ein weiteres Mal auf vier Beinen in Gestalt einer mächtigen Wölfin durch die Nacht streifen und jagen. Etwas von diesem Raubtier war jederzeit in ihr. Auch jetzt. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten.
    Sie atmete tief durch und trat aus dem Schatten der Bäume.
    Erst nachdem sie geraume Zeit durch das niedrige Gras gegangen war, blieb sie stehen, um sich umzudrehen. Der Rote Wald lag weit hinter ihr, eine kaum erkennbare Wand aus Schwärze in der angebrochenen Nacht.
    Sie hatte nun die Welt verlassen, die sie bisher gekannt hatte, und die beinahe zwanzig Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. Ein kühler Wind wehte ihr harsch ins Gesicht, als sie sich wieder umdrehte, um weiterzugehen.

Weitere Kostenlose Bücher