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Runlandsaga - Feuer im Norden

Runlandsaga - Feuer im Norden

Titel: Runlandsaga - Feuer im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Gates
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wartet. Ich dachte mir: Was könnte mich mehr an die Vergänglichkeit erinnern als ein Knochen meines eigenen Körpers? Also ging ich alleine in den Wald und hackte mir den kleinen Finger ab. Ich legte ihn vor mich auf einen Ameisenhaufen und blieb für lange Zeit an diesem Ort, um mir den allmählichen Verfall meines Körperteils zu betrachten. Ich sah zu, wie die kleinen Tiere das abgetrennte Fleisch verzehrten, bis nur noch der blanke Knochen übrig war. Schließlich nahm ich den Überrest meines Fingers, bohrte ein Loch hindurch und trug ihn all die Jahre, bis zum heutigen Tag. Wann immer ich ihn ansah, erinnerte er mich daran, dass es das ist, was ich unter meiner Haut, dem warmen Blut und den Fasern meines Fleisches bin: ein Skelett. Genauso ein Skelett wie die Toten in dem Cairan des Gorrandhas. Eines Tages werde ich trotz all meines Strebens das sein, was dieser Teil meines Körpers bereits ist.«
    Nerias Finger fuhr vorsichtig, fast zärtlich, über den verzierten Knochenanhänger auf ihrer ausgestreckten Handfläche. »Warum willst du ihn mir schenken? Es hört sich an, als wäre dir dieses Amulett sehr teuer.«
    »Weil das noch nicht die ganze Geschichte ist«, sagte Sarn. »Ein Jahr, nachdem ich den Anhänger geschaffen hatte, starb meine Lehrerin. Sie hatte niemanden außer mir, also kümmerte ich mich um ihre Bestattung. Ich verbrannte ihren Leichnam, wie es ihr Wunsch gewesen war. Als der Wind ihre Asche davonwehte, traf es mich mit einem Mal, als würde ich einen Hieb auf den Kopf erhalten. Ich sah die Begrenztheit meines eigenen Denkens. In meinem Ehrgeiz hatte ich mir einen Finger abgeschnitten und ihn mir umgehängt, um mir etwas über die Vergänglichkeit allen Lebens beizubringen, und hier sah ich nun, wie der Wind die pulverisierten Knochen meiner Lehrerin forttrug. Auch dieser Knochen um meinen Hals würde eines Tages seine Gestalt verlieren, wie auch der Rest meines Körpers, wie überhaupt alles, was eine Gestalt besitzt. Das war die wirkliche Lehre meines Amuletts: Es war nur ein Bild, das ich viel zu ernst genommen hatte, und der Preis dafür hieß, mit neun Fingern durchs Leben gehen zu müssen. So tat ich meinen ersten Schritt auf einem Weg, der mich schließlich nicht zu den Höhen des Wissens führte, sondern nur in eine Hütte im Roten Wald.«
    Sie schloss ihre Hände um Nerias Hand, in der immer noch das Amulett lag. »Nimm es. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen werden, aber es soll dich beschützen und deinen Hitzkopf daran erinnern, wie viele Dinge, die wir für unendlich wichtig halten, nichts weiter als Bilder sind, an die sich unser Verstand klammert, um sich die Welt zu erklären.«
    Ein Grinsen brachte die Falten in ihrem alten Gesicht in Bewegung. »Aber vor allem sieht es verflucht gut aus. Die Verzierung an der Spitze zum Beispiel, was glaubst du, wie lange ich an einem Stück Holz geübt hab, um die so hinzubekommen! Na los, häng es dir um, ich will wissen, wie es dir steht.«
    Sarn freute sich wie ein Kind, als Neria den Anhänger überstreifte und er über ihrer ledernen Jacke lag. Sie umarmte die junge Frau noch ein letztes Mal, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ich mag keine lange Abschiede. Lass uns einfach umdrehen und unserer Wege gehen!«
    Neria nickte. Etwas drückte schmerzhaft in ihrer Kehle. Erneut musste sie Tränen fortschlucken. Sie winkte Sarn zum Abschied zu, dann wandte sie sich um und trat ein paar Schritte den Hang hinab. Ein flatterndes Geräusch ließ sie herumfahren. Sie sah, wie Larnys im Flug hinter dem Hügelkamm verschwand. Die Hexe war bereits fort. Neria stand noch eine Weile unbeweglich da und beobachtete die Kuppe des Hangs, doch nichts bewegte sich dort mehr, außer den Zweigen der Kiefern, durch die der kühle Wind des späten Nachmittags wehte. Schließlich drehte sie sich wieder um und ging vorsichtig weiter hinab, zu dem Bach, dessen Rauschen über die flachen Steine mit jedem Schritt zunahm.
    Es war eigenartig. Der Abschied von ihrem Dorf, von ihrer Mutter und den anderen ihres Stammes hatte sie geschmerzt. Es hatte wehgetan, sich in die Fremde aufzumachen und dabei nicht zu wissen, ob es denen, die sie zurückließ, in ihrer Abwesenheit gut ging, ob sie alle wohlbehalten wiedersehen würde. Aber von Sarn Abschied zu nehmen, von einer alten Frau, die sie gerade einmal ein paar Tage lang gekannt hatte, fiel ihr viel schwerer. Noch Stunden später, als die Sonne längst untergegangen war und Neria ihr Lager für die

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