Runlandsaga - Feuer im Norden
seist.«
Alcarasán blickte zu Boden. Das schwindende Licht der Dämmerung verdunkelte den Raum zusehends, sodass er den Linien der geschwungenen Rankenmuster auf dem weißen Stein nur noch mit Mühe folgen konnte.
Sie waren nicht mehr hier. Nach all der gemeinsamen Zeit waren sie fortgegangen. Sicher, die Stadt der Erde gehörte nicht zu den Randgebieten der bekannten Welten. Es würde auch dort möglich sein, sie aufzusuchen und wiederzusehen. Doch es blieb der schale Geschmack, dass er sie bei seiner Rückkehr nicht mehr vorgefunden hatte. Während er sich auf der Suche nach den Maugrim befunden hatte, war das Leben in Vovinadhár weitergegangen. Freunde hatten Entscheidungen getroffen, die ihre Leben veränderten, aber er hatte keinen Anteil daran gehabt.
Sein Blick schweifte durch das Turmzimmer. Als es noch durch das rote Licht des Tages erhellt worden war, hatte er es nicht weiter in Augenschein genommen. Er hatte den Raum nur betreten, um den Blick über Gotharnar in sich aufzunehmen. Jetzt erst betrachtete er ihn genauer. Der Junge, den er in seinen Gedanken am Fenster gesehen hatte, war oft hier heraufgekommen, um zu spielen. Häufig hatte er sich an diesem Ort vor seiner Schwester versteckt, die ihn im ganzen Haus hatte suchen müssen, ein Spiel, das sie beide immer wieder gespielt hatten, ohne dessen jemals überdrüssig zu werden. Manchmal hatte er seine Gestalt gewechselt und sich in einen Gegenstand verwandelt, um sie zu täuschen. Andere Male hatte er sich aber auch einfach hinter einem der Möbel in diesem Raum verborgen und versucht, ihrem Geist das Gefühl zu geben, er hielte sich in Wirklichkeit in einem anderen Zimmer auf.
Damals war das Turmzimmer voller Dinge gewesen, die sie beide im Laufe der Zeit hier hinaufgeschafft hatten. Doch heute war es beinahe leer, bis auf einen Schrank und eine Truhe, die beide ihm gehörten. Manaris Stabpuppen, ihre Farbtöpfe und die breiten, mit Stoff bespannten Rahmen, die sie für ihre Malereien zusammengebaut hatte, waren verschwunden. Das war nicht mehr das Zimmer, in dem seine Schwester und er aufgewachsen waren. Es war nur ein verlassener Ort hoch über der Stadt.
Er hatte es nicht gewagt, diese Frage bei seiner Ankunft zu stellen, doch nun wollte er nicht mehr länger warten. »Hast du während meiner Abwesenheit etwas von Manari erfahren? Hat sie etwas von sich hören lassen?«
Aneirialis schwieg für eine Weile. Alcarasán sah, wie sehr es sie schmerzte, auch nur den Namen ausgesprochen zu hören.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Von dem Abend an, als sie unser Haus verließ, war sie wie vom Erdboden verschwunden. Auch unsere Verwandten und Freunde haben nichts von ihr gehört, während du für den Orden in der Fremde warst.«
Sie holte tief Luft, als bereitete es ihr Mühe, weiterzusprechen. Alcarasán glaubte schon, er vernähme gleich ihre Stimme in seinem Geist, weil es ihr zu schwer fallen würde, Worte über ihre Tochter zu finden. Doch nach einem kurzen Augenblick sprach sie weiter. In Alcarasáns Familie war das laute Aussprechen von Gedanken nie so stark verpönt gewesen wie in einigen anderen der alten Häuser, die in Verbindung mit dem Tempel und dem Orden standen.
»Es ist, als wäre sie so weit wie möglich von Gotharnar fortgegangen, um nur ja nicht an unsere Schande erinnert zu werden.«
»Was für eine Schande?«, fuhr Alcarasán auf. »Unser Vater hat einen Fehler gemacht. Unser Vater, nicht wir! Beim Drachen des Feuers, wir waren Kinder! Habe ich vielleicht die Flucht ergriffen? Ich bin geblieben, nachdem er entkommen war. Ich musste mir die Blicke der anderen gefallen lassen. Ich habe all die Jahre mit deinem Kummer gelebt, nicht sie! Und trotzdem habe ich es geschafft, ein Vertrauter des Ältesten zu werden. Sie hätte sich ebenfalls ein Leben hier in Gotharnar aufbauen können, frei von der Vergangenheit, frei von den Fehlern unseres Vaters. Aber stattdessen hat sie uns im Stich gelassen!«
Aneirialis sagte nichts. Sie sah nur hilflos zu Boden. Alcarasán wünschte sich, sie hätte ihm erwidert, dass es ihm als Sohn nicht ziemen würde, schlecht über seinen Vater zu sprechen, auch wenn er Vovinadhár verraten hatte, dass er seiner Schwester keine Vorwürfe machen solle, weil sie die Schande weniger gut ertragen hatte als er. Aber sie schwieg. Die Stille füllte seine Gedanken mit mehr Erwiderungen auf seine lauten Worte, als ihm lieb war.
Was machte er sich hier eigentlich vor? Er war doch auch geflohen, genauso wie
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