Runlandsaga - Sturm der Serephin
Lieder gespielt hatte. Wie lange war das her! Wie viel Zeit war vergangen seit dem Frühsommer seiner Jugend!
Inzwischen war sein Haar ergraut, und er konnte nicht mehr leugnen, dass mehr Jahre hinter ihm lagen, als er vermutlich noch vor sich haben würde.
Er war Margon.
Plötzlich vernahm er, wie mehrere kleine Steine auf dem Boden der Höhle aufschlugen. Schwankend mühte er sich auf die Beine, wandte sich um und sah dort, wo es noch tiefer ins Dunkel hineinging, eine Gestalt auf dem Boden zwischen den Felsen kauern.
Für einen kurzen Moment blitzte vor seinen Augen das Bild der schwarzen Wesen auf, die ihn mit wütendem Fauchen verfolgt hatten. Panik überkam ihn wie ein eiskalter Regenguss. Gleichzeitig setzte die Gestalt sich in Bewegung und lief in seine Richtung. Sie geriet ins trübe Licht des Höhleneingangs, das die Züge ihres Gesichts ein wenig erhellte. Margon erkannte, dass es ein junger Mann war, der einen dunkelgrünen Wollumhang trug. Doch der Fremde rannte gar nicht auf ihn zu, sondern in einem weiten Bogen an ihm vorbei, um die Höhle zu verlassen.
»He! Bleib hier!«, rief Margon. Seine Stimme hallte rau von den Felsen wieder. Der Mann warf ihm einen kurzen, erschrockenen Blick zu und lief weiter.
Margon setzte ihm nach, so schnell seine alten Beine es zuließen. Der Fremde hatte ihn beobachtet, während er in die Geistwelten gereist war, und er wollte wissen, weshalb.
Am Eingang der Höhle verlangsamte der Flüchtende seinen Lauf. Hier konnte er nicht so schnell drauflos stürmen, denn der Pfad, der von dem Loch schräg rechts die Felswand hinaufführte, war eigentlich kaum als solcher zu bezeichnen. Er war gerade so schmal, dass man mit beiden Beinen darauf stehen konnte. Erst mehrere Fuß weiter oben wurde er breiter und führte zur Spitze der Klippe und zur Meeresburg hinauf.
Der junge Mann hatte gerade einen Fuß auf den Vorsprung am Eingang gesetzt und den Kopf eingezogen, um ihn durch das Loch zu schieben, als Margon ihn von hinten ergriff und ihn zurück in die Höhle zerrte. Dabei stolperte er, verlor das Gleichgewicht und fiel zusammen mit dem Unbekannten zu Boden. Der Mann stöhnte auf, als sein Rücken über das Gestein schrammte. Margon selbst prallte mit dem Hinterkopf an die Kante eines Felsens. Dumpfer Schmerz blitzte vor seinen Augen auf, doch er unterdrückte ihn und rollte sich rasch auf den Körper des Fremden. Seine Hände fanden dessen Arme und pressten sie zu Boden. Ein regelrecht stolzes Gefühl durchströmte ihn dabei. Er mochte vielleicht ergraut sein, aber er konnte noch immer fest zupacken, wenn es nötig war!
»Wer bist du?«, keuchte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Was willst du hier?«
Der junge Mann blickte ihn ängstlich an. Er konnte nicht älter als vielleicht fünfundzwanzig Jahre sein. Sein Gesicht war lang und schmal. Schwarze Haarsträhnen hingen ihm tief in die Stirn, dahinter schimmerten dunkelblaue Augen. Margon wollte ihn weiter anherrschen, doch plötzlich hielt er inne.
»Moment mal, ich kenne dich!«, rief er aus. »Du bist ...«
»Ich bin Enris, aus der Stadt«, stieß der Fremde hervor.
»Enris ...« wiederholte Margon. »Natürlich, wir sind uns schon mal begegnet – beim Fest der Wintersonnwende, nicht wahr? Du wohnst im Haus von Larian, der dem Rat angehört.«
Der junge Mann nickte hastig.
»Ay, so ist es. Verzeiht mir, ich wollte Euch nicht nachstellen!«
Margon ließ die Arme des Mannes los. Er rollte sich von dessen Körper und blickte an ihm vorbei zum Meer, das jenseits des Höhleneingangs zu sehen war. Wie ein graues Tuch breitete es sich dort unten aus und streckte sich dem Horizont entgegen. Mehrere Kormorane flogen dicht vor dem Loch vorbei, dunkle Flecken vor dem Hintergrund des Himmels und der See.
Wer auch immer seine Verfolger waren, dieser Mann gehörte nicht zu ihnen. Wo sie wohl gerade sein mochten, in diesem Augenblick? Er dachte an Myrddins Worte, das Bild von den Schalen einer Pflanzenknolle, den zahllosen unsichtbaren Welten um ihn herum, so nahe und so unmerklich, und ihn schauderte.
3
»Wenn du mir nicht hinterhergeschnüffelt hast, was wolltest du dann hier?«, verlangte Margon zu erfahren.
Enris hatte sich aufgesetzt. Sein rechtes Hosenbein war etwas hochgerollt, und er betastete vorsichtig seinen Knöchel, mit dem er auf dem Felsboden aufgeschlagen war. Am Höhleneingang herrschte genug Licht, um eine blutende, aufgeschürfte Stelle zu erkennen, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Dennoch
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