Runlandsaga - Wolfzeit
Landschaft mit wenigen niedrigen Sträuchern zwischen schroffen Granitfelsen aufwies.
»Wie sieht es mir dir aus? Entweder lässt du es dir nicht anmerken, so wie ich, oder dir wird genauso wenig schlecht wie den anderen ... wie nennt ihr sie? Den Seeleuten?«
»Ay, das ist der richtige Name. Ich werde nicht seekrank. Ich hab meine Kindheit in einer Hafenstadt weit südlich von hier verbracht und bin schon auf Schiffen herumgelaufen, bevor ich schwimmen konnte.«
Neria musterte ihn überrascht. »Du konntest nicht von Geburt an schwimmen?«
»Natürlich nicht. Kein Mensch kann das. Man muss es erst lernen.« Er stutzte. »Ist das denn bei euch Wolfs ... bei euch Voron anders?«
»Ay, wir können alle schwimmen, ohne es lernen zu müssen, so wie es auch unsere Brüder und Schwestern, die Wölfe, können. Ich wusste nicht, dass das bei euch Menschen anders ist. Wieder etwas, das uns von euch trennt.«
Sie schwieg eine Weile. Enris, der vermutete, dass sie allein sein wollte, war schon wieder im Gehen begriffen, als sie plötzlich weitersprach. »Das Land sieht genauso eintönig aus wie dieses endlose Wasser. Gibt es eigentlich keine Bäume in dieser grauen Gegend?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Nein, aber das wird sich bald wieder ändern. Ich habe einen Blick auf Suvares Karte geworfen. Weiter nördlich von hier reicht der Rote Wald bis an die Küste. Dann kannst du ihn vom Schiff aus sehen.«
»Hoffentlich.« Neria seufzte.
»Er fehlt dir sehr, nicht wahr? Der Rote Wald.«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Stattdessen suchten ihre Blicke weiter die Küste ab, als ob sie es nicht erwarten könnten, sich in einer Landschaft mit Stämmen, Ästen und Blättern zu verlieren.
»Was weißt du vom Roten Wald?«, wollte sie dann wissen.
»Nicht viel, ich bin nie zuvor im Wildland gewesen. Das, was ich vom Roten Wald gesehen habe, war während des Sturms. Als die Serephin den Drachen töteten, den Arcad ›Wächter der Luft‹ nannte.«
Jetzt wandte sich Neria ihm zu. Ihre Aufmerksamkeit war geweckt. »Du hast erzählt, dass du den Wald durch seine Augen gesehen hättest. Wie war das?«
»Ich ... es fällt mir schwer, es zu beschreiben«, erwiderte Enris zögernd. »Er flog über die Bäume hinweg. Ich konnte sie von weit oben sehen. Das jagte mir mächtig Angst ein. Ich dachte, jeden Augenblick würde ich abstürzen. Trotzdem war es wunderschön, dieses Meer aus Baumkronen unter mir, wie eine Welt im Kleinen.«
Nerias verschlossener Gesichtsausdruck erhellte sich. »Ay, das ist meine Heimat. Eine Welt für sich. Ich hätte niemals geglaubt, mich einmal außerhalb von ihr aufhalten zu müssen.«
»Gleichzeitig wehrte sich der Drache an den Weißen Klippen wie rasend gegen die fliegenden Schlangen, die ihn umzingelt hatten. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie das möglich sein konnte. Vielleicht war das, was er mit mir teilte, eine Erinnerung an das, was ihm am Wichtigsten war. An das, was er beschützen sollte.«
»Den Wald«, warf Neria ein.
»Nicht nur den Wald. Ganz Runland. Das war seine Aufgabe, seine Bestimmung. Der Rote Wald war der Ort, den er in dieser Welt am meisten ...« Er hielt für einen Moment inne, als suche er nach dem richtigen Wort. »... am meisten liebte.«
Er lachte hilflos auf und fuhr sich durch seine Haare, die ihm der Wind ins Gesicht geweht hatte.
»Das hört sich verrückt an, was? Ein riesiges Ungeheuer wie jener Drache, der ein Gefühl wie Liebe kennt.«
»Es klingt überhaupt nicht verrückt«, gab Neria zurück. »Glaubst du vielleicht, nur Menschen könnten so etwas verspüren?«
»Ich weiß nicht. Ich habe bisher nie darüber nachgedacht.«
Neria schien seine Erwiderung nicht richtig gehört zu haben. »Du sagtest, du hättest mich durch seine Augen gesehen«, murmelte sie versonnen. »Warum nur hat er dir meine Gestalt gezeigt? Weshalb ausgerechnet mich?«
Enris antwortete nicht. Auch Neria schwieg. Gemeinsam standen die beiden an der Bordwand, beobachteten die nahe Küste und warteten darauf, die ersten Bäume des Roten Waldes zu entdecken.
Es dauerte nicht lange, bis der Wunsch der Voronfrau, ihre Heimat wenigstes aus der Ferne sehen zu können, erfüllt wurde. Nachdem die Suvare einen weiteren Tag nach Osten gesegelt war, wurde das Land hinter der Küste allmählich bewaldet. Die windgeschüttelten, kargen Sträucher bekamen die Gesellschaft von Birken und hochgewachsenen Buchen. Dahinter zeichneten sich bald die Umrisse vieler weiterer Bäume an
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