Runlandsaga - Wolfzeit
Vollmond inzwischen so weit überquert hatte, dass er bereits wieder im Sinken begriffen war.
Sie standen inmitten einer nahezu kreisrunden Felsplatte, die von den wie Zinnen aussehenden Klippenwänden eingeschlossen wurde. Auch diese Plattform erweckte den Eindruck, als hätten findige Steinmetze einen natürlichen Felsenschornstein zwischen zwei Klippen so bearbeitet, dass man sich hier zu mehreren unter freiem Himmel aufhalten konnte. Den Grund für diese mühevolle Arbeit erkannte Enris in wenigen Fuß Entfernung vor sich in der Mitte der Plattform. Es war ein ebenfalls kreisrundes steinernes Becken, das beinahe bis zum Rand mit Regenwasser gefüllt war und damit den Bewohnern der Höhlenanlage einen stattlichen Vorrat an Trinkwasser bot.
Shartan ging mit seinem Gefangenen im Schlepptau direkt zu dem Becken, dessen Wände dem jungen Mann bis zum Bauch reichten. Auf seiner reglosen Wasseroberfläche, schwarz wie die Steine, die sie umgaben, ruhten die Lichtpunkte der Sterne.
»So, Kleiner, hier endet die Führung durch unsere gemütliche Gemeinschaft«, riss Shartan ihn aus seinen Gedanken. Mit einer unvermittelten, schnellen Bewegung presste er Enris’ Kopf brutal nach vorne und tauchte ihn unter Wasser. Völlig überrascht und erschrocken versuchte dieser sich gegen den Druck zu stemmen, doch vergebens – der Gegendruck des Piratenanführers war zu stark. Er schluckte Wasser, und seine Angst wuchs zu heller Panik, als er zu husten anfing und der letzte Rest an Atemluft aus seinem Mund entwich. Die kalte, nasse Dunkelheit um ihn herum wurde zu einer würgenden Hand an seiner Kehle.
Da riss ihn derselbe Arm, der ihn unter Wasser gedrückt hatte, wieder zurück in die Welt der Lebenden. Er hustete und spuckte, während er mit weit aufgerissenem Mund so verzweifelt nach Atem rang, als ob sein Kopf noch immer in das Becken getaucht würde. Undeutlich vernahm er das brüllende Gelächter der Piraten, die sich inzwischen ebenfalls auf der Plattform drängten und ihm zusahen.
»Das war nur ein kleiner Weckruf«, erklang Shartans Stimme dicht an seinem Ohr. »Damit ich deine volle Aufmerksamkeit bekomme. Die hab ich doch jetzt, oder?«
Sein Gefangener nickte mühsam.
»Schön. Pass gut auf. Ihr liegt in der südöstlichen Bucht vor Anker. Das ist kein Geheimnis.« Enris zuckte unwillkürlich zusammen, was Shartan auflachen ließ. »Woher ich das weiß? Denkst du, ich kenne meine eigene Insel nicht? Es gibt nur zwei Anlegeplätze auf Irteca. Dort – oder hier, genau unter meiner Nase. Da ich euch hier nicht sehe, kann euer Schiff nur an dem anderen Ort sein. Aber ich weiß nichts von der Stärke eurer Mannschaft. Wie viele Männer in Waffen sind gerade auf Irteca? Sind sie in der Nähe?« Seine Stimme nahm einen etwas leiseren, dafür aber um so bedrohlicheren Klang an. »Und – wo ist das rothaarige Dreckstück, mit dem ihr an den Weißen Klippen gewesen seid?«
Er erhielt keine Antwort. Der junge Mann blieb stumm. Das Gesicht des hünenhaften Piraten verhärtete sich. Zornig riss er seinen Gefangenen herum und drückte ihn erneut mit dem Oberkörper unter Wasser. Der steinerne Rand des Beckens schnitt Enris schmerzhaft in den Brustkorb. Diesmal hatte er rechtzeitig ein wenig Luft geholt, kurz bevor sein Kopf untergetaucht wurde. Doch es half ihm nichts. Shartan hielt ihn eisern fest, während sich sein Körper mit den letzten Luftblasen, die ihm aus Nase und Mund entwichen, heftig dagegen wehrte, weiter unter Wasser bleiben zu müssen. Wieder drang Flüssigkeit in seine Lunge. Er glaubte, qualvoll im Dunkeln ersticken zu müssen. Endlich kam der erlösende harte Griff in seine Haare, der ihn wieder emporriss. Enris besaß kaum noch einen klaren Gedanken und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Keuchend würgte er Wasser hervor, während Shartan ihn zufrieden ansah.
»Ich kann das noch stundenlang mit dir machen«, vernahm er ihn undeutlich zwischen seinem Röcheln nach Atem. »Dir hundertmal das Gefühl geben, du würdest sterben. Und verlass dich darauf, daran gewöhnst du dich nie. Für deinen Körper ist es jedes Mal wie beim ersten Mal. Oder du sagst mir, was ich wissen will. Dann beende ich es schnell. Wie willst du es haben?«
Enris’ Kopf schien völlig leer. Der einzige Wunsch, der ihn noch bewegte, war der, kein weiteres Mal unter Wasser getaucht zu werden, nicht wieder das Gefühl zu haben, dass alles Leben aus seinen Lungen gepresst wurde. Vor der Unmittelbarkeit dieses Wunsches
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